von Sophie Staron
Und sie nahm sie bei der Hand. Es fĂŒhlte sich richtig, doch so falsch an. Die beiden stolperten ĂŒber dieGleise, sie spĂŒrte nicht, wie ihre Knie bluteten und brannten. Sie war einfach nur glĂŒcklich.
Und sie spĂŒrte wie glĂŒcklich sie war, wie ihr Griff fester wurde, ihre Hand ihr Handgelenk umfasste. Sie spĂŒrte die Narben, die bei Tageslicht schamerfĂŒllt von den Tattoos ĂŒberdeckt wurden. Ihr Daumen spĂŒrte die Rillen, die wie Blindenschrift sagten: âHilf mir.â
Und das war, was sie tat: Helfen, obwohl sie selbst oft genug Hilfe gebraucht hĂ€tte, jeden Abend, und gelegentlich morgens. Wenn die Langeweile, der Frust, die Angst, Wut, Trauer und Erschöpfung wieder hochkamen â wenn ihr das Leben einfach wieder zu viel wurde.
Sie hĂ€tte jemanden gebraucht, der sie bei der Hand nahm. Jemanden, der sie mitzog, ihr zeigte, wie die Welt aussehen konnte, wenn der Blick ungetrĂŒbt war. Jemanden, der sie von den Schienen zog.
Sie wollte gesucht und gefunden werden. Dennoch wollte sie in Ruhe gelassen werden. Warum musste man sie immer verĂ€ndern? Warum hatte sie immer das BedĂŒrfnis sich Ă€ndern zu mĂŒssen – die Furcht, dass andere sie ablehnten, wenn sie nicht diejenige war, die alle begehrten, umwarben, beneideten.
Sie wusste es nicht. Sie wĂŒsste es so gerne.
Und dann war da das MĂ€dchen, dĂŒnn und kraftlos. Sie sah sie von der BrĂŒcke aus, wie sie auf den Gleisen umherlief. Sie wusste, dass sie sie nicht sah, weil die Nacht, so warm sie auch war, Licht und Schatten schluckte.
Die Nacht schluckte ihre Existenz â zum GlĂŒck?
Denn wenn sie an den HĂ€usern und den Kegeln der Laternen vorbeispazierte, dann dachte sie nach: Sie fragte sich, ob sie fĂŒr immer so bleiben wĂŒrde. Stand sie im Kegel, sah man ihre schlanke Figur, ihr dickes Haar, ihre Lippen, die glĂ€nzten und die Haut, die funkelte. Doch auĂerhalb des Kegels fĂŒhlte sie sich abnorm: Ihr Hals brannte, ihre HĂ€nde waren eisig, obwohl das Thermometer die zwanzig Grad selbst tief in der Nacht noch ohne MĂŒhen erreichte.
Und dann auf der BrĂŒcke, kein Kegel weit und breit, dort sah sie das MĂ€dchen auf den Gleisen. Die schmĂ€chtige Person, irrend, nicht gehend. Der Blick wanderte hoch, sie wich einen Schritt zurĂŒck. Als wolle sie nicht, dass Ihr Schatten erkannt wĂŒrde – niemals.
Doch ihr Blick konnte sich nicht lösen, nicht von der Person die inzwischen auf den Gleisen zu liegen versuchte. Der Stahl musste kalt sein, so unbequem, so erbarmungslos. Warum tat man sich so etwas an? Sie konnte es sich vorstellen. Sie wusste wie unbequem und erbarmungslos das Leben sein konnte, wenn niemand sich bequemte und niemand sich erbarmte.
Und so stand sie, nicht lange, einen Augenblick. Sie stand nur da, sie stand und beobachtete, beobachtete die Person.
Langsam realisierte sie, dass die Gleise rechts von ihrem Standpunkt jene waren, die mit Gras ĂŒberzogen Tag und Nacht ruhten. Ihr wurde bewusst, dass unter ihr jemand lag, eine Person, auf befahrenen Gleisen; eine tödliche Mischung.
© Sophie Staron 2022-08-31