Unechte Stadt

Julia Bisping

von Julia Bisping

Story
Venedig

Wie jeden Tag steige ich aus dem Zug von Vicenza. Bis ich an der Uni angekommen bin, brauche ich meistens noch eine halbe Stunde, manchmal etwas länger. Es ist Mittagszeit, daher herrscht am Bahnhof reger Betrieb. Die Schalter sind überfüllt und Menschenmengen drängen durch die gläsernen Türen der Bahnhofsvorhalle. Ich lasse mich wie immer von der Masse treiben. Drängeln nützt hier nichts, das habe ich schnell kapiert. Durch die Türen, die Stufen hinunter, bis zum großen Kanal, wo das Gedränge sich langsam zerstreut. Touristen bleiben stehen, Einheimische stecken sich hastig Kopfhörer in die Ohren oder tippen auf ihrem Handy herum, während sie sich in die nächste Gasse verdrücken oder über eine nahegelegene Brücke entschwinden. Dieses Schauspiel erlebe ich jeden Tag. An der ersten Vaporettostation nehme ich ein Boot in Richtung Lagune. Am Anfang war es aufregend, jeden Tag nach Venedig zu fahren, doch jetzt ist es Routine geworden.

Ich setze mich auf einen der Plastikstühle weit vorne im Boot. Zum Glück sind noch einige frei. Die Sonne spiegelt sich auf dem Wasser und ein leichter Wind weht durch meine Haare, als das Vaporetto ablegt. So ist es fast, als würde ich in einer Gondel gefahren werden. Ich setze meine Kopfhörer auf und lasse mich von Sfera Ebbasta durch die Kanäle begleiten. Seine Stimme und auch die Texte passen nicht zu Venedig, aber genau das mag ich. Ich liebe den Kontrast. Seit ich hier studiere, ist mir der ganze Schnick Schnack in Venedig zu viel geworden. Ich habe das Gefühl, mit jedem Jahr wird es mehr. Mehr Leute, mehr Touristengeschäfte, mehr Souvenirs, mehr „Unechtes“. Dieses Wort beschreibt es eigentlich am besten, denke ich, während ich eine Gondel beobachte, in der fünf Personen sitzen, die allesamt einen Selfiestick in der Hand halten. Die Stadt wird immer unechter. Man kann sich teilweise kaum vorstellen, dass wirklich Menschen hier leben. Zwischen den tausenden Plakaten, die für irgendeine Ausstellung, Stadttour oder Bootsfahrt werben, den hunderten von Restaurants mit ihren Touristenmenüs und den Geschäften, in denen sich kein einziger Einheimischer aufhält. Ich denke an das „Tote Viertel“ von Venedig, so wie es gemeinhin genannt wird. Ein ganzes Viertel vollgestopft mit Luxusgeschäften. Abends, wenn die Touristen im Bett sind, ist in dem Viertel nichts mehr los. Nichts von der Lebendigkeit, die ansonsten in der Stadt herrscht, ist hier zu spüren. Traurig. Doch das alles ist mir erst nach einiger Zeit aufgefallen. Ich war selbst lange geblendet von dem Prunk, dem Gold, den Türmchen und geflügelten Löwen. Ich habe die Leute beneidet, die hier wohnen. Jetzt bemitleide ich sie.

Als das Vaporetto am Sprachen Institut anlegt, atme ich tief durch. Ich bin froh, dass ich hier studiere. Das Institut liegt etwas abseits, direkt gegenüber der Insel Giudecca. Nicht zu vergleichen mit dem prachtvollen Hauptgebäude mitten in der Stadt, doch ich mag die Schlichtheit der sandfarbenen Steine. In der Eingangshalle hole ich mir wie jeden Morgen zuerst einen Kaffee aus dem Automaten. Als die braune Brühe in den Becher läuft, vibriert mein Handy. Ich schaue auf die Pushnachricht. Echt jetzt? Für heute ist Hochwasser angekündigt. Aber erst gegen Abend und in der Nacht. Ich stecke das Handy zurück in die Tasche. Dann bin ich sowieso längst wieder zu Hause in Vicenza.

© Julia Bisping 2023-08-25

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Emotional, Inspirierend
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