von Story_Sisters
Meine Schwester Iris ist die jüngere von uns beiden. Wie so oft bei Geschwistern lernte sie spielend mit, worin ich mich in der ersten Klasse der Volksschule mehr oder weniger mühsam durchkämpfte. Wenn ich in der Fibel das Lesen übte, hörte sie zu und konnte bald jeden Satz auswendig mitsprechen.
Beim Abfragen der Rechnungen detto. Später waren ihre Zeugnisse jedes Mal besser als meine. Das wird wohl in den meisten Familien so sein. Lauter Einser, die meine Schwester viele Jahre hindurch heimbrachte, schaffte ich kein einziges Mal. Immerhin tat ich mir in Deutsch leicht.
„Das ist eine Aufsatzmacherin“, bemerkte schmunzelnd der Lehrer in der Dritten zu meiner stolzen Mutter. Vielleicht lag es daran, dass ich mich bemühte, nicht dieselben Ausdrücke wie alle übrigen zu gebrauchen. Dennoch eliminierte er die eigenwilligsten mit dem Rotstift.
Ich legte meiner Katze „Miausimau“ ins Maul, aber das gefiel ihm denn doch nicht. Auch als ich einen gewissen Rhythmus ahnte und beim Bericht über Allerheiligen von den Erwachsenen erzählte, sie schälten am Tisch die heißen Maroni „…und trinken roten Wein“. Da fand er „Rotwein“ passender. Egal.
Aufsätze schrieb Mama in ihrer Schulzeit auch gern, und bestimmt verstand sie sich darauf. Wenn wir als Hausaufgabe einen Text verfassen mussten, blieb sie am Tisch sitzen und sprang sofort ein, wenn ich nach einem Ausdruck suchte. Klar hatte ich nichts dagegen. Welches Kind ist nicht froh, wenn es die Schulsachen bald wieder verräumen darf?
Manche Themen kamen ihr so gelegen, dass sie mir den Aufsatz von A bis Z diktierte. Ich hatte nicht darum gebeten, denn ich wollte beweisen, dass ich zumindest in einem der Fächer ihren Vorstellungen entsprechen konnte.
Außerdem unterschieden sich ihre Gedankengänge gewaltig von meinen. Als es darum ging, das Mädchenzimmer meiner Wünsche zu skizzieren, taten sich vor ihren Augen ganz andere Bilder auf. Niemals hätte ich von Nippes, Parfumfläschchen zum Anschauen und Rosentapeten geschwärmt! Wenn ich dürfen hätte, wären Poster aus dem Bravo an die Wand geklebt und statt des Erstkommunionkreuzes ein Foto vom Sonnenuntergang am Meer angebracht worden.
Aber als braves Mädchen versuchte ich gar nicht, mich durchzusetzen. So wurde Mutter zu meiner unerwünschten Ghostwriterin. Bald hatte ich den Eindruck, nicht einmal meine stärkste Seite sei gut genug.
Ab und zu mussten wir unsere Aufsätze in der Klasse vortragen. Dann wurde es für mich peinlich. Nicht selten wollte ich am liebsten im Boden versinken. Etwa, wenn vom Beten oder Gehorchen die Rede war. Dann sahen die anderen Kinder mich seltsam an. Mehrmals nahm Fräulein Rossi mein Heft mit ins Konferenzzimmer und las in anderen Klassen daraus vor.
Iris hatte die Rossi ebenfalls in Deutsch. Wenn mein Name genannt wurde, schämte sie sich natürlich, kannte sie doch den Werdegang. Aber Mutter strahlte, wenn sie zu Hause davon erzählte, und fühlte sich in ihrem Tun bestätigt.
(Viola)
Foto: Annie Spratt / unsplash
© Story_Sisters 2021-01-24