Unruhe

JosiBecker

von JosiBecker

Story

Ich ziehe die Karte „Begegne Unruhe mit Anmut“ aus dem Set und lege sie vor meine Yoga-Matte. Es ist ein Tag vor Weihnachten und ich halte meine letzte Stunde in diesem Jahr. Ich stehe vor meinen Schülern und ich bin unruhig.

In meinen Yogastunden versuche ich den Teilnehmern mit Worten und Übungen ein lebensbejahendes und positives Gefühl zu vermitteln. Wie kann ich das heute, wenn ich unruhig bin?

Kurz zuvor habe ich von dem unerwarteten Tod der 45-jährigen Tochter einer Schülerin erfahren. Lungenembolie.

Gestern Abend hat mich der Anruf meines in Berlin lebenden 21-jährigen Sohnes mit den Worten erreicht: „Mama, hol mich. Ich will nach Hause.“

Letztes Jahr starb mein 34-jähriger Cousin zwei Tage vor Weihnachten an einer Gehirnblutung.

All das fällt wir wieder ein, während ich vor der Klasse stehe und eine positive und lebensbejahende Stunde abhalten soll.

Mein Blick schweift über die Schüler. Ich neige meinen Kopf zum Boden und lese nochmals die Karte „Begegne Unruhe mit Anmut.“

Ich bin unruhig einen Tag vor Weihnachten.

Die Zeit vor Weihnachten ist die Zeit der Wünsche.

Viele wünschen sich Geschenke, manche wünschen sich ein Wunder.

Nicht wenige wünschen sich, sie könnten die Zeit zurückdrehen, um Worte zu sagen, die sie nicht ausgesprochen haben, Momente zu fühlen, die sie verpasst haben, mehr Zeit mit den Menschen zu verbringen, die sie geliebt haben.

Manche wünschen sich, die Einsamkeit besonders am Heiligen Abend würde nicht so weh tun.

Die Kirchenglocken läuten meine Stunde ein, aber meine Unruhe ist für alle spürbar.

Meine Yoga-Schülerin trauert über den Verlust ihrer Tochter und eine Leere wird lange Zeit ihr Leben bestimmen.

Mein Sohn durchlebt die schmerzhafte Phase des unerwarteten Beziehungsaus mit Verzweiflung und Traurigkeit.

Diese Gedanken laufen wie ein Film vor mir ab, während ich vor der Klasse stehe und eine lebensbejahende, positive Stunde halten soll.

Ich hebe den Kopf und blicke jedem Schüler bewusst in die Augen.

„Heute bin ich unruhig“ beginne ich meine Stunde.

„Morgen ist Weihnachten. Die Zeit, in der wir näher zusammenrücken, mehr verzeihen, mehr lieben, mehr Dankbarkeit und Demut spüren, mehr an Wunder und Magie glauben.

An Weihnachten merken wir, wie bedeutsam und wertvoll viele Menschen in unserem Leben sind. Es ist nicht die Zeit, die Zeit aufzuschieben, die Liebe aufzuschieben, Momente und Worte aufzuschieben. Wir wissen nicht, wie sich unser Leben im nächsten Augenblick verändert. Warten wir doch nicht auf Weihnachten, um es uns bewusst zu machen! Leben und lieben wir jetzt!“

Nach neunzig Minuten beende ich die Stunde mit einer Verneigung und wünsche allen frohe Weihnachten. In mein Handy tippe ich eine Mitteilung für meinen Sohn und lächle, denn auch er schreibt. Wohl gleichzeitig erhalten wir die Nachricht.

Meine: Ich hole dich.

Seine: Ich komme nach Hause.

© JosiBecker 2020-01-06

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