von Sonja M. Winkler
Ich bin friedliebend und emotionalen Schnellschüssen abhold. Ich möchte mit meinen Nachbarn in gutem Einvernehmen leben. Punkt. Der Herr Mag. H. offensichtlich nicht. Er pfeift aufs gute Einvernehmen.
Ich beobachte sein Verhalten bereits seit Längerem und bin froh, dass ich ihm nie das Du-Wort angeboten habe. Herr Mag. H. hat sich mit einigen Hausparteien fraternisiert, und jetzt ist er mit ihnen zerkracht. Ich will ihm nicht unrecht tun, aber es hat sich bei mir der Eindruck erhärtet, dass er etwas von einem Querulanten hat. Ich wollte das anfangs nicht wahrhaben.
Herr Mag. H., ca. 50 Jahre alt, nicht unattraktiv, doch unbeweibt, nach eigenen Angaben: hart geprüftes Lehrerkind, wohnt in derselben Anlage wie ich, nur auf einer anderen Stiege. Er beansprucht zwei Stellplätze in der Garage, einen für ein Cabrio und einen für seine goldfarbene Kawasaki.
Wie gesagt, er wohnt auf Stiege 1, just dort, wo immer die schrecklichsten Dinge vorfallen. Im Flur wird geraucht, sodass der Rauchmelder ständig anschlägt, und irgendjemand entledigt sich der Kippen vor seiner Haustür. Einem der Nachbarn, und er weiß genau wem, ist beim Gang zum Lift das Müllsackerl geplatzt, und der bestialische Gestank des verrotteten Küchenabfalls, der vom rücksichtslosen Pöbel nicht restlos entfernt wurde, erfüllt den ganzen 1. Stock. Seine Zurechtweisungen, so Herr Mag. H., würden bei den Nachbarn auf taube Ohren stoßen. Es fehle der impertinenten Sippschaft jede Einsicht.
Warum ich über all diese Details unterrichtet bin? Weil Herr Mag. H. uns, einen kleinen, erlesenen Kreis von ca. 15 Eigentümer:innen, via Mail und WhatsApp auf dem Laufenden hält, übrigens auch über die wortreiche Kommunikation mit seinem Rechtsanwalt, weil man gegen die misswirtschaftlichen und gesetzesbeugenden Aktivitäten einzelner Trolle in der Anlage ernsthaft vorgehen müsse.
Bei den regelmäßigen Zusammenkünften, denen Herr Mag. H. vorsitzt, wirft er mittels Beamer eine Endlos-Agenda an die weiße Wand des Stübchens im Sportstudio gegenüber. Dinge, die anliegen. Missstände aufzulisten ist sein Anliegen. So viel ist klar.
Er kommt leicht in Fahrt und kriegt dann ein rotes Gesicht. Der erlesene Kreis lauscht seinen Ausführungen, die schier kein Ende nehmen wollen. Neben seinem Beruf als selbstständiger Unternehmensberater fühlt er sich seit Jahren für alle Hausbelange zuständig. Sein Apple hat jeden Schriftverkehr mit allen drei gehabten Hausverwaltungen abgespeichert und spuckt akribisch gebündelte Excel-Dateien aus, dass ich mich nur so wundere. Woher nimmt er die Zeit?
Ich hege die leise Vermutung, dass Herr Mag. H. in ein Burnout schlittert. Ich behalte das aber für mich. Ich warte zu. Beobachte weiter, aus immer größer werdender Distanz.
Von meiner Funktion als Protokollantin bin ich zurückgetreten. Der erlesene kleine Kreis ist geschrumpft. Den Zusammenkünften bleibe ich immer öfter fern.
© Sonja M. Winkler 2020-06-18