Unser Geheimnis

Sheela Taheri

von Sheela Taheri

Story

Mitten in einem der berühmt berüchtigten Bezirke Wiens, den Außenstehende mit zwielichtigen Gestalten und Tichy-Eis in Verbindung bringen, steht ein Gebäude, das mehr Erinnerungen, Geschichten und Emotionen birgt als sich die meisten Personen, die daran vorbeispazieren, vorstellen können. Es ist nicht sonderlich bunt oder ein historisches Denkmal. Es ist weder prunkvoll noch zieht es durch seine eigentliche Funktion die Aufmerksamkeit auf sich. Und so sind einzig und allein diejenigen, die mehrere Jahre von Montag bis Freitag ihre wertvolle Jugendzeit darin verbracht haben, jene, die das Geheimnis dieses Gebäudes kennen, das von außen bloß wie eine herkömmliche Bildungseinrichtung wirkt. Es handelt sich dabei nicht um ein Geheimnis, das man nicht weitererzählen darf. Nur ist es so, dass nur wenige, die nicht selbst ihre Erfahrungen in dieser Schule machen konnten, es nachvollziehen können, wenn man das Geheimnis lüftet. Dennoch erwische ich mich immer wieder dabei, wie ich begeistert von dieser Zeit berichte, doch während ich ausschweifend und grinsend von Zusammenhalt und gemeinsamer Stärke erzähle, merke ich, dass nur diejenigen, die ich nie vergessen habe, wirklich verstehen würden, wovon ich spreche. Nur sie haben wie ich nicht vergessen, wie wir uns reihum kichernd die Übersetzungen im Lateinunterricht zusteckten, damit niemand auf der Strecke blieb. Wir haben nicht vergessen, wie wir uns gemeinsam dem enormen Mathematik-Stoff stellten, damit wir alle die Matura überstanden. Wir haben nicht vergessen, wie wir einander in schwierigen Zeiten bei den Spinden trösteten, und wie wir uns gegenseitig anfeuerten, wenn wir dabei waren, etwas zu erreichen. Auch wenn es klassische Teenager-Problemchen, dramatische Zwischenfälle oder grundlegende Meinungsverschiedenheiten gab, waren alle anderen zur Stelle, wenn es darum ging, einen von uns, der zu fallen drohte, aufzufangen. Wir teilten unsere verschiedenen Sprachen, unsere Kulturen und vor allem unseren Humor. Und so verstehe ich heute noch arabische Wörter, zähle Sarma zu meinen Lieblingsgerichten und tanze zu albanischen Liedern.

Wir schufen eine Welt, die ich jetzt, wo ich weiß, dass sie so unglaublich selten entsteht, noch viel mehr zu schätzen weiß. Die Loyalität, die Freude am Leben und der gemeinsame Ehrgeiz waren für uns immer selbstverständlich und doch merke ich jetzt, Jahre später, für wie viele Menschen diese Selbstverständlichkeit wie ein Geheimnis wirkt. All die Erinnerungen, Geschichten und Emotionen werden immer ein Teil von mir sein und falls ich sie dennoch einmal vergessen sollte, muss ich mich nur mit einem Tichy-Eis vor das unscheinbare Gebäude stellen, das durch wunderbare Menschen der Hüter eines Geheimnisses wurde, das so viele nicht entschlüsseln können.

© Sheela Taheri 2020-05-12

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