Unter dem blauen Wunder

Jenny Marx

von Jenny Marx

Story

Die Polizistin sagte, dort habe meine Mutter das Auto abgestellt. Fahrertür auf, Motor an, der Schlüssel steckte. Das Auto stand verlassen auf einer der größten Kreuzungen Leipzigs, unter der Brücke aus blau angestrichenem Metall, von Einheimischen das “Blaue Wunder“ genannt. Sie stand gleich neben der “Blechbüchse“, dem Kaufhaus mit der wabenförmigen Aluminiumfassade. Daneben standen drei Hochhäuser. In einem dieser Häuser wohnten meine Großeltern. Seit mein Opa gestorben war, lebte meine Oma allein in der Wohnung mit dem Blick über die Innenstadt.

Dorthin war meine Mutter von der Kreuzung aus gelaufen, nachdem sie aus dem orangenen Skoda ausgestiegen war. Den Weg von unserer Wohnung bis zu meiner Oma unternahm sie allein und getrieben von ihren zunehmend starken, unkontrollierbaren Wahnvorstellungen. Sie werde verfolgt, ihre Mutter sei in Gefahr, sie müsse zu ihr, sagte sie beim panischen Verlassen unserer Wohnung.

Bei meiner Oma angekommen, brach sie zusammen. Sie lag auf dem Teppich in der Wohnstube, neben dem Esstisch und war hilflos wie ein Baby. So fand ich sie, als ich mit meiner Schwester ankam. Ein Bild, das ich nicht mehr loswerde. Das und der Satz “ Menschen sind wichtiger als Autos“. Diesen Satz sagte sie immer wieder. Vor allem zu der Polizistin, weil die sie ständig nach dem Auto fragte.

Meine Oma hatte die Notrufnummer gewählt als ihre Tochter in ihrer Wohnung einen Nervenzusammenbruch erlitt. Danach hatte sie bei uns in der Wohnung angerufen. Ich war zu Hause und nahm ab. Meine Oma war aufgeregt und unterdrückte ihre Tränen. Sie sei bei ihr und läge in der Stube. Zusammengebrochen sei sie und stammle nur noch unverständliche Sachen. Der Rettungswagen sei unterwegs.

Da mich meine Mutter in der Wohnung, in der ich mit ihr seit einiger Zeit allein lebte, eingeschlossen hatte, musste mich meine Schwester erst mit ihrem Schlüssel befreien. Meine Schwester wohnte nicht mehr zu Hause. Sie studierte und wohnte bei meinem besten Freund, ein paar Häuser weiter.

Ich stand also im Wohnzimmer meiner Oma und sah auf meine Mutter herab, die auf dem Teppichboden neben dem Esstisch lag und nicht mehr allein aufstehen konnte, weil ihre Muskeln versagten. Das führte wohl auch dazu, dass sie nicht mehr richtig reden und schreiben konnte. Als die Polizistin ihr ein Formular hinhielt, dass sie unterschreiben sollte, schaffte sie den ersten großen Buchstaben ihres Namens. Der Rest war ein abwärtsführender Strich. Hilflose Mutter, hilflose Oma, hilflose Schwester und hilfloses Ich. Ein Moment wie ein Film, den ich nicht sehen wollte.

Mein Leben war zu diesem Zeitpunkt schon seit vielen Jahren immer wieder geprägt von Hilflosigkeit, Wut, Traurigkeit und Angst. Das erste Mal, als meine Mutter zwangseingewiesen wurde, war ich in der 2. Klasse. Diagnose: eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis. Das begleitet mich ein Leben lang. Und länger.

© Jenny Marx 2021-06-30

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