von StellaVomMeer
Die ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich fast ausschließlich bei meiner Großmutter. Sie war über siebzig als ich geboren wurde. Doch obwohl ich ihr zehntes Enkelkind war, bestand zwischen uns beiden eine enge Bindung.Sie wohnte in einem kleinen Haus, bestehend aus zwei ebenerdigen Zimmern.Omas Haus stand im Schatten des viel grösseren Hauses meines Onkels auf einem großen Grundstück mit Hof und Obstgarten.Wir lebten in Mostar im Zentrum gegenüber vom Partisanenfriedhof und neben dem Fußballfeld. Auf diesem Fußballfeld hat in den Sechzigern Pierre Brice geübt vom Pferd zu fallen, während meine Mutter und ihre Freundinnen auf der Mauer, die den Garten vom Sportplatz trennte, saßen und ihm zusahen. Nicht wissend, dass im fernen Deutschland Winnetou der Kassenschlager wird. Ich habe die Winnetou Filme später gesehen und mich immer gefragt, ob Amerika wirklich so wie meine Heimat aussieht?
Zwischen den beiden Häusern standen zwei große Linden und ein Feigenbaum. Dieser Feigenbaum war der Baum meiner Kindheit. In seinem Schatten saß ich und spielte. Hier unter seinen großen Blättern entstanden meine ersten Geschichten.In der Früh, wenn ich wach wurde, rannte ich in den Garten und umarmte den Baum. Für mich riecht nichts so gut wie ein Feigenbaum.Morgens, wenn die Blätter und Früchte noch feucht vom Tau waren und ihren süßen Geruch verströmten, konnte ich natürlich nicht widerstehen und aß die ersten Feigen. Nicht zur Freude meiner Oma.Feigen zum Frühstück? Auch im Süden Europas gibt es Regeln!Zum Frühstück gab es für mich (und ich war noch klein) Milchkaffee und Brot. Damals war das für mich ganz selbstverständlich. Heute denke ich mir oft, die Feigen wären doch das gesündere Essen gewesen.Meine Kaffeesucht ist mir quasi in die Wiege gelegt worden.Nach der “Droba”, so heißt das Kinder-Milchkaffee-Brot-Gemisch, durfte ich meinen Hocker nehmen, den alten Topf, meine Puppe (die ich aus Deutschland geschickt bekommen hatte) und unter dem Feigenbaum meinen Spielen nachgehen.
Auch wenn es Kaffee zum Frühstück gab und ich nicht mehr als einen Hocker, einen alten Topf und eine Puppe zum Spielen hatte, war diese Zeit die friedlichste und schönste in meinem Leben.Jedes Mal, wenn ich einen Feigenbaum sehe, muss ich an meine Großmutter und ihre tätowierten Hände denken. Und mein Herz wird ganz wehmütig.
© StellaVomMeer 2021-07-08