von Mary Modl
ZufÀlle sind es, die uns oftmals die ungewöhnlichsten aber auch bereicherndsten Begegnungen bescheren. ZufÀlle sind es jedoch auch, die uns manchmal daran zweifeln lassen, sie als solche zu betrachten. Besonders dann, wenn wir an deren Ungeplantheit zu zweifeln beginnen. Gar schnell verkehrt sich der vermeintlich er- doch offensichtlich verkannte Zufall in das, was wir als vorbestimmt und nicht abÀnderbar erachten; auch Schicksal genannt.
Es war wohl ein reiner Zufall, der mich in die Klenaugasse in Wien Kagran zu einem Neurologen fĂŒhrte. Es waren bereits zwei Stunden, die wir absaĂen, um das x-te Gutachten bezĂŒglich des Arbeitsunfalls meines Bruders erstellen zu lassen. Im Wartezimmer war es stickig. Ich brauchte Frischluft. Von der Vorzimmerdame erfuhr ich, dass es noch eine gute Stunde dauern wĂŒrde, bis wir vorgelassen wĂŒrden. Da mein Bruder es bevorzugte, Sudoku lösend die Zeit abzusitzen, begab ich mich alleine nach drauĂen.
Dort, wo die MeiĂauergasse in die Klenaugasse mĂŒndet, erblickte ich ihn zum ersten Mal, den Trauerschnurbaum. Wie ein ĂŒberdimensionaler Pilz dominierte er das StraĂenbild. Die bereits in herbstliches Ambiente getauchte Baumkrone reckte sich noch sonnenenergiegeladen im Geiste den sich im sommerlichen Nachklang befindlichen Himmelblaumomenten darĂŒber entgegen. Jedoch war bereits so ein Anflug eines Abschieds spĂŒrbar. Noch hielten sich die BlĂ€tter, um die Kraft ihres GrĂŒns kĂ€mpfend, wacker an ihren Ăsten, sich der nahenden stĂŒrmischen Zeit nicht entkrĂ€ftet wirkend ergeben zu wollen.
Beinahe ehrfĂŒrchtig nĂ€herte ich mich diesem impressionistisch anmutenden Szenario. Als ich unter die mĂ€chtige Baumkrone trat, wanderte mein Blick den krĂ€ftigen Stamm entlang nach oben. Und was mein Auge nun zu erspĂ€hen bekam, lieĂ mir an Worten fĂŒrs Erste fehlen. Ein Teil der Ăste hatte sich in sich verschlungen, zu einem dschungelartig undurchdringlich wirkenden Wirrwarr geformt; ein nach oben strebendes GeschlĂ€ngel von Ăsten, anmutend in der Unendlichkeit des Obens zu enden.
Den Kopf hochgestreckt, versuchte mein Blick diesen GeĂ€stschlangen zu folgen. Je intensiver mein Betrachten, desto mehr hatte ich das GefĂŒhl, eine wunderbare VielfĂ€ltigkeit von innigen Umarmungen zu erkennen. Das leichte SĂ€useln eines Herbstwindliedes lieĂ nicht nur die BlĂ€tter sanft bewegen, es zog mich wie auf gedanklichen SchnĂŒren hoch, tief in dieses GeĂ€st hinein. Eine wohlig warme Wahrnehmung von tiefer Geborgenheit erfĂŒllte mich. Ich war so vielem plötzlich ganz nahe in dieser Zeit der groĂen Distanz; fĂŒhlte mich von hunderten Armen umĂ€rmelt und getragen. Und in diesem Moment war ich meinen schon so lange entfernten Lieben ganz nahe.
Dieser herbstliche Abschied des Lebendigen der Natur hauchte mir wunderbar vergangenes Leben ein. SĂ€uselnd trieb der Wind sein fegendes Spiel, wĂ€hrend Stare â Vogelschriften in den Himmel zeichnend â auf ihre Reise gingen. Ich fĂŒhlte mich herrlich frei ⊠befreit.
© Mary Modl 2020-11-01