Unverhältnismäßig nah

Theodor Leonhard

von Theodor Leonhard

Story

“Chef, so etwas kannst Du wirklich nicht machen. Das geht gegen die Regeln. Du würdest alles über den Haufen werfen, was bisher gegolten hat.“ Nur mühsam konnte der Oberengel Gabriel seine vor-weihnachtliche Empörung unter Kontrolle halten. “Was ist Dir da nur wieder eingefallen?”

Der Appetit war Gabriel wieder einmal gehörig vergangen beim wöchentlichen Arbeitsfrühstück mit seinem obersten Boss. Voller Sehnsucht erinnerte er sich an Zeiten, als noch alles seine geregelte Ordnung hatte. Aber in der letzten Zeit hatte der Chef immer öfter so eigenartige Anwandlungen. Erst vor 14 Tagen hatte er ihm, dem obersten Engel in der himmlischen Hierarchie, das Du angeboten. Wie war so etwas möglich? Ein Engel mit Gott höchstpersönlich Du auf Du. Ganz ehrlich, gebauchpinselt fühlte Gabriel sich schon. Ohne Frage hatte er sich seine Verdienste erworben. Aber so auf persönliche Freundschaft mit Gott persönlich. Daran musste er sich erst noch gewöhnen.

Aber, was der Boss ihm jetzt als seinen neuesten Plan eröffnete, das ging nun endgültig über seine himmlische Hutschnur. Er wollte seinen Sohn vom Himmel herunter auf die Erde schicken, damit er unter den Menschen lebt. Wie konnte er nur auf diese verrückte Idee kommen.

„Völlig ausgeschlossen! Seit Jahrhunderten, oh was untertreibe ich wieder, seit Jahrtausenden sind die Verhältnisse so: Der Himmel ist oben. Die Erde ist unten. Du bist Gott im Himmel, umgeben von der Menge der himmlischen Heerscharen, von denen ich der Höchste bin. Und die Menschen sind die Menschen auf der Erde. Du gehörst hierher. Lass es Dir in aller gerade geschlossenen Duz-Freundschaft sagen: Hier ist Dein Platz! Lass die Verhältnisse, wie sie nun einmal sind. Du weißt doch, dass Verhältnismäßigkeit eines der wichtigsten Regeln geworden ist. Frag doch gerade mal bei den Menschen nach, an denen Du so einen Narren gefressen hast. Oh, entschuldige! Das war jetzt vielleicht ein bisschen heftig! Aber Verhältnismäßigkeit geht doch bei ihnen über alles.“

Nein! Nein! Oberengel Gabriel! Keineswegs war das übertrieben. Ich habe diese Menschen einfach so heftig ins Herz geschlossen. So möchte ich es sagen. Bei meinen Menschen geht es mir einfach um Liebe. Da ist mir ziemlich egal, ob das verhältnismäßig ist.“

“Aber Chef! Zumindest einen deutlichen Abstand solltest du zwischen dir und den Menschen einhalten. Das geht doch nicht: Gott und die Menschen Hand in Hand. Du bist doch Profi! Wenn nicht du, wer dann? Da musst Du schon eine professionelle Distanz wahren. Schau Dir doch mal Deine ach so geliebten Menschen an, wie sie auf Distanz leben. Denen darfst Du nicht zu nah kommen.“

“Das will ich ja gerade. Nicht nur Hand in Hand will ich mit ihnen gehen. Du auf Du, wie mit Dir! Ich will sie berühren in ihrem Herzen. Und ich wünsche mir so sehr, dass sie sich gegenseitig berühren.”

“Boss! Nein! Es geht nicht! Unverhältnismäßig und viel zu nah!”

“Gabriel, Du bist ein Engel! Ich könnte es nicht besser sagen: Unverhältnismäßig nah!”

© Theodor Leonhard 2021-12-13

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