Unverständlich verstanden

Martina Süss

von Martina Süss

Story

Kein Alter schützt den Menschen, das Einem Verbotene zu begehren. Und manchmal ist es genau das, was man sich vorstellte, als man wusste, man dürfe es nicht.

Ein junges Mädchen von fünfzehn Jahren steht in einem Türrahmen und beobachtet ein Gespräch zwischen Vater und Bruder. Er hätte etwas für ihn, der Vater für den Sohn, ein Buch. Ein kurzer Blick auf das Mädchen in der Tür. Für sie wäre das nichts. Und die Tür schloss sich bloß scheinbar. Eine andere öffnete sich in diesem Moment, eine, welche in einem jungen Herz mit einem kühlen Luftzug eine Ahnung aufkommen lässt, die unhörbar durch den sich öffnenden Spalt weht.

Kafka. Das Urteil. Ein Erzählband, alt auseinanderfallend. Bücher werden nicht von Kleber zusammengehalten. Sie sind gebunden durch die Hände der Leserin.

Gelesen in einer Nacht, weil es in einer geschrieben war. Doch wie hätte ich es verstehen können, wie auch nur die Weite und Fülle und Komplexität erahnen können, welche dieser Schreiber, diese Erzählung in sich barg. Denn mir schien es einfach. Einfach, weil es in mich drang, wie eine Wahrheit, die nicht zu verstehen war, nicht verstanden werden will, die bloß eine Ahnung hat und grell in ihrem Sinn, maskenlos vor mir stand und mich anstrahlte. Etwas war da. Dort, unter all diesen Worten, lag etwas, das schien, als hätte ich es verloren, und in meiner Brust entsprang eine kindliche Freude über das Wiedergefundene. Es war etwas Wahres – nur das wusste ich. Und verborgen. Doch selbst aus dem Verborgenen rührte es mich und ich liebte es von diesem Augenblick. Ich suche es seit jeher – in allen Büchern und Geschichten. In jedem Wort.

Es war von da an ein Teil von mir, eine Ahnung, die mich nicht mehr alleine lassen sollte. Immer hinter meiner Stirn anwesend, ein neuer Schleier vor meinen Augen, der mir die Welt anders zeigt, als ich sie bisher gesehen. Sein Name war mir von da an ein Zeichen, welches ich nicht zu entschlüsseln vermag, dass mir aber eine Aufgabe stellt und sich in alles mischt, was wichtig zu sein vorgibt.

Kafka.

Erst durch Das Urteil wurde ich zu der, die um das Schloss wandelt, vergeblich einen Eingang suchend. Erst durch dieses kleine Buch wurde ich zu der, die in des Landarztes Kutsche sitzt und die starken Flanken der Pferde riecht. Erst durch diese Erzählung hatte ich eine Idee von der Welt, die mir keine Angst machte. Denn es war in Ordnung, sie nicht zu verstehen, ihre Grenzen nicht zu kennen – Kafka hatte sie mir so tragikomisch vorgeführt, mich auf so viele Schiffe mitgenommen, dass ich keine Furcht zu haben brauchte. Ich muss bloß diese Geschichte zur Hand zu nehmen. Und sie wird mir wie einst das Gefühl geben, dass die Welt der Bücher mein Zuhause ist.

© Martina Süss 2021-11-27

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