von Traude
Meine Kindheit in den 60ern war geprägt von Freiheit, aber auch Geborgenheit durch Eltern und Großeltern. Besonders stolz war ich – und da konnte niemand meiner Alterskollegen mithalten – darauf, dass ich drei Großmütter hatte. Eine Urgroßmutter und beide Omas. Das machte im freundschaftlichen Wettkampf das Manko von nur einem Opa wieder wett. Denn eine Uroma zu haben, das kannten viele nur aus Erzählungen. Die Mutter meiner Oma väterlicherseits war eine beeindruckende Frau für mich. Klein und zart wirkte sie aufgrund ihrer aufrechten Haltung und ihrer zumeist ernsten Miene sehr ehrfurchtgebietend auf uns Kinder. Gekleidet in eine hochgeschlossene Bluse und einen langen schwarzen Rock, saß sie da und musterte uns und unsere Aufmachung. Es hätte nicht der Ermahnung zum Bravsein bedurft, wir hätten ohnehin kaum einen Mucks von uns gegeben. Dazu trug auch bei, dass ihre Kinder, immerhin unsere Großeltern, Onkel und Tanten, bis zum letzten Tag die Anrede “Sie” und “Mutter” gebrauchten. Auch waren wir strengstens angewiesen, nur mit Großmutter zu sprechen, wenn sie das Wort an uns richtete. Das kannten wir sonst nicht.
Es war immer etwas Besonderes für mich, wenn Oma mich zu ihrer Mutter mitnahm. Still saß ich dann auf der Eckbank und lauschte ihrer Konversation. Urgroßmutter nahm aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters und der Tatsache, dass man als Frau alleine an keinen Unternehmungen teilzunehmen hatte, kaum mehr am Dorfleben teil. Deshalb stellten ihre Töchter für sie die Verbindung nach außen dar. Oma erzählte von den Neuigkeiten, während sie gleichzeitig mit einer Bürste die Haare ihrer Mutter zum Glänzen brachte. Großmutter hatte, und das war für mich ein weiterer Höhepunkt, eine Haarpracht, die mich an das Märchen von Rapunzel erinnerte. Ihre grauen Haare wellten sich nahezu hüftlang um den Kopf und Oma hatte gefühlte Ewigkeiten zu tun, um sie glatt zu bekommen. Dann wurden sie sorgfältig zu zwei Zöpfen geflochten und kronenförmig um den Kopf gewunden. Nach Abschluss der Zeremonie wechselten wir ins Wohnzimmer und ich nahm auf dem großen Diwan Platz, während die beiden alten Damen am Tisch ihren schwarzen Tee tranken und ein Stück Zwieback dazu aßen. Da ich weder “russischen” Tee mochte, noch Zwieback besonders gut fand, öffnete Großmutter eine Lade im Kasten und reichte mir eine geheimnisvolle Schachtel. Darin befand sich eine Art Glasmurmelsammlung, die in verschiedenste Muster gelegt werden konnte. Noch heute sehe ich die glitzernden, in allen Farben leuchtenden Kugeln vor mir. Ich liebte es, diese Schachtel zu öffnen, mich an der Pracht zu erfreuen. Lange jedoch war mir der Genuss nicht gegönnt, denn sobald die Frauen ihren Tee getrunken hatten, mahnte Oma zum Aufbruch und ich musste mich von den Murmeln trennen.
Als Großmutter im Alter von 97 Jahren starb, schloss sich für mich ein Fenster in die Vergangenheit und ich bereue es bis heute, nicht aufmerksamer den alten Geschichten gelauscht zu haben.
© Traude 2022-11-11