von Erdmann Kühn
Die Fahrt am nächsten Morgen aus Hamburg heraus geht erstaunlich gut, an der Stadtgrenze atmet Vater hörbar erleichtert aus. Jetzt dauert es nicht mehr lange, die Kinder freuen sich auf Meer, Wellen und Strand. Vater fängt an zu singen, ein gutes Zeichen. Sing man tau, sing man tau, von Herrn Pastor sind Kau jau jau … Dann fragt er: “Kinder, riecht ihr’s auch schon?” – “Waa-as?” – “Schnuppert mal, die Luft wird schon ein bisschen salzig. Es riecht nach Meer!” – “Jaaaa!”
Dann ist es endlich soweit. Das Zelt wird aufgebaut, das Auto entladen. Dann geht es mit dem Variant direkt an den Strand. Beim Aussteigen bemerken sie schon den Menschenauflauf, aufgeregte Männer kommen direkt zum Auto gelaufen. Eine junge Frau ist ertrunken, sie muss direkt ins Krankenhaus nach Tönning gebracht werden. Die Familie steigt verwirrt aus, Vater klappt die Rücksitze um, so dass eine Ladefläche entsteht. Muskulöse Männer bringen die Frau ins Auto. Ein Sanitäter steigt mit ein und setzt die Wiederbelebungsmaßnahmen fort. Ein anderer Mann steigt zu Vater vorne ins Auto. Dann geht es mit Licht und wild hupend auf der Landstraße in die Kreisstadt. Leider vergeblich. Als sie im Krankenhaus ankommen, wird derTod festgestellt.
Für die vier Kinder sind die ersten Urlaubstage untrennbar mit der Leiche verbunden. Bea erzählt Jan und Friedel mit verschwörerischer Mine alles über Leichenstarre und rät ihnen, nichts im Auto zu berühren. Es wäre alles noch infiziert. Man könne es auch riechen. Friedel schnuppert. Ja, das Auto riecht seit diesem Tag nach Wasserleiche. Ihm wird jetzt regelmäßig schlecht, wenn er im Auto mitfährt. Das Thema Tod lässt ihn nicht los. Es lauert überall und verfolgt ihn bis in seine Tag- und Nachtträume.
Er erinnert sich wieder an den Urlaub im letzten Jahr in Neustadt. Da fuhren sie immer mit einem Bus zur Ostsee, der dort an den Dünen wendete. Bea hatte ihm damals erzählt, wie sich ein Bus im Sand festfuhr und nicht mehr wegkam. Diese Geschichte hatte sich Friedel im Kopf in allen Einzelheiten ausgemalt. Er konnte es genau sehen, wenn er die Augen schloss. Der einsame Bus im Sandsturm in den Dünen, ein verzweifelter Fahrer, ein heulender Motor, Räder, die sich immer weiter in den Sand eingraben, bis zuerst die Räder und schließlich der ganze Bus vom Sand verschluckt werden. Verschwunden und begraben für immer, bis zum Jüngsten Tag.
Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen am Strand war es damals gewesen, tiefe Löcher in den Sand zu buddeln und hineinzukriechen. Manchmal buddelten sich auch Jan und Friedel gegenseitig zu, so dass nur noch der Kopf herausguckte. Ein seltsames Gefühl, wenn der Körper kalt, starr und unbeweglich wurde, wie abgetrennt vom Kopf. So war es also, wenn man in einer Gruft lag. Was stand auf dem Grabstein seiner Mutter?
Gar nichts verdirbt, der Leib nur stirbt …
Wie ist es, wenn der Leib stirbt? Wie schlafen? Aber dann wacht man ja wieder auf.
Mutti war nicht mehr aufgewacht.
© Erdmann Kühn 2021-10-25