Urvertrauen

Andrea Gundolf

von Andrea Gundolf

Story

Wir alle kommen auf unterschiedliche Weise auf die Welt. Manche fühlen sich ab dem ersten Atemzug in ihrem geborgenen Nest zu Hause. Für andere bläst schon zu Beginn ein kalter Wind und sie möchten am liebsten wieder in den warmen und sicheren Mutterschoß zurück. Doch wie soll ein Kind Vertrauen in die Welt aufbauen, wenn es die Kälte spürt und diese vermutlich ein ständiger Begleiter sein wird?

In der Generation meiner Eltern war es üblich, die Kinder im Krankenhaus zu gebären. Die Schwangerschaft, bis hin zum Geburtsvorgang, wurde als störungsanfälliger Prozess eingestuft. Die Neugeborenen wurden den Müttern gleich nach der Geburt abgenommen und nur zu gewissen Zeiten ausgehändigt. Stillen war in dieser Zeit verpönt, galt als unmodern und das Kind erhielt stattdessen Flaschenkost aus dem Supermarkt. Üblich war ein rauerer Umgangston, der dazu diente, die Kinder nicht mit allzu viel Liebe zu überschütten. Es wurde gesagt, ein Übermaß an Liebe würde sich ungünstig auf die kindliche Entwicklung auswirken.

Viele Jahre später wurde das Stillen wieder populär. Man sprach auch von Bonding, wo der Beziehungsaufbau zwischen dem Neugeborenen und seinen Eltern gleich nach der Geburt gefördert wurde. Heute gehört es zum guten Ton, dass auch Papa bei der Geburt mit dabei ist und sein Baby schon ab der ersten Lebenssekunde liebkost. Es zeigt sich, dass Kaiserschnitte hierzulande zugenommen haben. Vielen Müttern ist die „leichte“, „schmerzlose“ Geburt lieber und sie bevorzugen von vornherein diese Variante. Dennoch wird die Phase der Bindung durch die Sedierung der Mutter beeinträchtigt. Ich frage mich, wie es über Jahrtausende möglich war, die Kinder auf natürlichem Weg und ohne jegliche Hilfe und Medikation zu gebären. Urvölker machen das auch heute ohne medizinisch-pflegerische Unterstützung. Wie haben all diese Menschen früher überlebt?

Und du fragst dich wahrscheinlich, warum ich das jetzt thematisiere.

Alles beginnt meines Erachtens mit dem ersten Gedanken, mit dem das Kind den Weg ins Leben findet. Das zieht sich fort bis hin zur Geburt und darüber hinaus. Der Start ins Leben und die ersten drei bis vier Kindheitsjahre beeinflussen die Entwicklung des Urvertrauens in das Leben. Bei uns ist es üblich, die Kinder schon sehr früh in Kindertagesstätten abzugeben, wo sie nicht immer die Zuwendung erhalten, die sie benötigen. Auch Gewalt an Kindern ist bis heute nicht unüblich. Manche Menschen stehen das gesamte Leben stark da und wissen, dass sie erwünscht und beschützt sind. Andere sind in einer Dauerunsicherheit und ohne Vertrauen unterwegs. Sie wittern an jeder Ecke eine Gefahr.

Insbesondere in Zeiten einer Krise braucht es die Vernetzung mit anderen. Vertrauen im Leben sucht man sonst in Scheinsicherheiten: „Wer Sicherheit der Freiheit vorzieht, bleibt zu Recht ein Sklave.“ (Aristoteles) Und: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren.“ (Benjamin Franklin)

© Andrea Gundolf 2022-01-13

Hashtags