Urvertrauen

Huter Franziska

von Huter Franziska

Story

Jedes Kind sehnt sich nach diesem einen Menschen, dem es blind vertrauen kann. Nein, das ist falsch. Ein Erwachsener sehnt sich nach einem Vertrauten. Das Kind braucht ihn. Ohne diesen einen Menschen, der sich um das Kind kümmert, es umsorgt und liebt ist es schlicht nicht überlebensfähig. Dabei geht es nicht nur darum, genug Nahrung zu haben, ein Dach über dem Kopf und Kleidung. Wir sind auch auf die körperliche Nähe von anderen hingewiesen, sonst sterben wir ebenfalls. Das macht deutlich, wie wichtig es für dieses kleine menschliche Wesen ist, so jemanden zu haben. In den allermeisten Fällen handelt es sich dabei um die Mutter. Meine Mutter gab mir all das. Sie liebte mich, versorgte mich und war für mich da. Doch manchmal war sie das auch nicht. Sie stieß mich von sich, schimpfte über Kleinigkeiten und es gab Tage, da durfte man kein Wort zu viel sagen. Das bedeutete dann für mein kleines Kinderherz: Hilfe, ich bin alleine und alleine kann ich nicht überleben. Deshalb versuchte ich alle nur erdenklich mögliche, um meine Mutter wieder dazu zu bringen mich zu lieben. Ich versuchte zu fühlen und vorauszuahnen, was sie brauchte und genau so verhielt ich mich. Wie ein Chamäleon. Mal war ich grau, still und leise, wenn Mama ihre Ruhe brauchte. Mal bunt, schillernd und laut, wenn sie Aufmunterung brauchte und zum Lachen gebracht werden wollte. Tagtäglich passte ich mich ihren Launen an. Ich gewann dadurch viel. Meine Mitmenschen nennen mich empathisch und einfühlsam. Ich sage immer die richtigen Worte, weiß, was sie gerade brauchen, damit sie sich besser fühlen. Nur selten ecke ich an, oder errege Unmut. Nein, dafür wurde ich nicht geschaffen. Lügen haben bei mir keine Chance, ich weiß sofort, wenn jemand unehrlich ist, fast so, als könnte ich Gedanken lesen. Doch auch wenn ich all das „gewonnen“ habe, insofern man dies als Gewinn betrachtet, so habe ich das wichtigste verloren, das ein Mensch besitzen kann. Vertrauen. Das Vertrauen in die Menschen, die mich lieben. Das Vertrauen, dass diese Welt ein guter und sicherer Ort ist. Das Vertrauen in mich selbst und dass ich richtig bin, so wie ich bin. So gerne würde ich endlich die Mauern um mein Herz zerbrechen und zulassen, dass ich geliebt werde. So gerne würde ich den Menschen mein wahres Ich zeigen, ohne mich zu verstellen, aus Angst, dass sie mich verlassen oder von sich stoßen. So gerne würde ich mich endlich fallen lassen und vertrauen. Vertrauen, dass ich aufgefangen werde und nicht am Boden in tausend Stücke zerschelle. Es ist schön ein Kind zu sein. Doch noch schöner ist es erwachsen zu sein und zu erkennen, dass ich nicht zerbreche, wenn ich fallen gelassen werde. Zu erkennen, dass ich mich selbst halten und für mich selbst sorgen kann. Es ist schön, zu realisieren, dass es nicht meine Verantwortung ist, wie es anderen Menschen geht, dass es nicht meine Schuld ist. Und langsam, ganz langsam, kann ich wieder anfangen zu vertrauen. Im Moment zwar nur mir selbst, doch das ist im Moment schon mehr als genug. Und irgendwann werde ich vielleicht auch anderen Menschen vertrauen können. Ich werde ihnen in die Augen sehen, ohne Furcht und ohne Angst und sie in mein Herz lassen. Und noch später irgendwann kann ich vielleicht auch wieder der ganzen Welt vertrauen. Ich bin fest davon überzeugt, dass Urvertrauen nicht nur etwas ist, dass man in den ersten drei Lebensjahren entwickelt, sondern etwas, das man jederzeit wieder erlangen kann, wenn man es nur will.

© Huter Franziska 2024-01-30

Genres
Lebenshilfe
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Reflektierend