von Alexandra Müller
Der Wind fühlt sich kalt an meinem nackten Fuss an. Am anderen trage ich noch einen Turnschuh und je länger ich auf dem Fenstersims sitze, desto unsicherer werde ich mir über die logistischen Fragen meines Plans. Ziehen Leute nicht für gewöhnlich ihre Schuhe aus, bevor sie sich irgendwo hinunterstürzen? Irgendwo habe ich mal gelesen, dass in Japan ein Paar verlassene Schuhe die willentliche Selbstbeförderung ihres Trägers in das Jenseits symbolisieren. Selbstmord also, verspätete Selbstabtreibung wenn man denn so will. Der Gedanke daran amüsiert mich irgendwie und ich bin froh, dass ich mich auch noch mit den Beinen auf dem achten Stock baumelnd lustig finde. Mein Problem hat sich dadurch aber immer noch nicht gelöst, also Schuhe oder keine Schuhe? Ich stelle mir vor, wie man nach meinem Abgang die Wohnung betritt und als erstes ein Paar Vans mitten im Wohnzimmer sieht. Das Bild gefällt mir nicht, meine letzte Hinterlassenschaft sollte nicht ein Ding an einer Stelle sein, wo es nicht hingehört. Also doch mit Schuhen. Ich blicke auf dem zweiten Turnschuh, der in einiger Entfernung am Boden liegt. Ich lehne mich aus der Abendluft in den Raum hinein und biege den Rücken so zum Boden hin, dass ich mit der ausgestreckten Hand dem Schuh nahekomme. Ich strecke mich noch mehr und beisse die Zähne zusammen, fest bestimmt meinen Hintern nicht von der Fensterbank zu verschieben. Falls mich bereits jemand aus einem der Nachbarshäuser beobachtet, soll er sich schliesslich nicht denken, ich sei ein Feigling, der seine Meinung geändert hat. Meine Fingerkuppe berührt den Schuh in demselben Moment, als ich das Gleichgewicht verliere. Bevor ich überhaupt realisiere, was geschieht, dreht sich die Welt um mich herum und ich lande mit dem Kopf zuerst auf dem Teppichboden, dessen Hygienezustand man bestenfalls als fragwürdig bezeichnen kann. Ich unterdrücke ein Lachen obwohl ich alleine bin. Immerhin bin ich gerade aus einem Fenster im achten Stock gefallen, nur leider in die falsche Richtung. Ich wische mit einer forschen Handbewegung etwas Staub von meinem Ärmel und während ich zu überlegen beginne, wann ich das letzte Mal gestaubsaugt habe, fällt mein Blick auf den gelben Post-it Zettel am Kühlschrank. Meine letzten Worte sind wie meiner Meinung nach jede Form von Kommunikation geschehen sollte: wohldurchdacht und unmissverständlich: Fuck off. Es wäre übertrieben zu behaupten, dass ich mich lange mit dem Gedanken an meine Hinterlassenschaft auf dieser Welt auseinandergesetzt habe. Wenn es mir so wichtig wäre, dann würde ich schliesslich schlichthin bleiben. Ich würde mich selbst an guten Tagen als Nihilist und an schlechten als ein Arschloch bezeichnen, und dennoch irritiert mich etwas an meiner Formulierung. Ich richte mich mühseliger auf als es eine Person in meinem Alter tun sollte und streiche mein Shirt glatt. Ich blicke mich kurz um, wie um mich zu vergewissern, dass niemand Zeuge dieser zugegebenermassen doch etwas denkwürdigen Szene wurde. Mit einer zielstrebigen Geste reisse ich den Post-it Zettel von der Kühlschranktür und starre auf die säuberliche Handschrift. Da kann ich endlich in Gedanken fassen, was mich an dem Meisterwerk irritiert. Es wirkt so nonchalant und ready-made, dass es von Künstlichkeit fast schon trieft.
© Alexandra Müller 2023-07-25