von Alexandra Müller
In diesem Moment der Schuhkontemplation fällt mir jedoch der Groschen, dass ich möglicherweise gar nicht ein Problem damit hatte, die Schuhe nicht mit mir zusammen in das Nachleben mitzunehmen. Anstatt mich davor zu fürchten, dass sie mir fehlen könnten, habe ich mich wohl immerhin ein bisschen schlecht gefühlt, sie allein zurückzulassen. Ein zugegebenermassen minimaler Kontrast, doch etwas daran scheint eine Weiche in den Windungen meines Gehirns umzulegen. Habe ich gerade tatsächlich die erste Sache gefunden, die mich am Leben hält?
«Diamantenparadies Mitternachtsstunde, mein Partner.» Entgegnet mir besagter glitzersteinbestiefelter Cowboy mit einem wohlwissenden Nicken. Ich nicke ebenfalls, als hätte ich nicht gerade den denkbar merkwürdigsten Namen für ein Geschäft gehört. Meine Frage lässt sich an dieser Stelle wohl von selbst erahnen, denn ich habe mich bei dem Herrn nach der Herkunft seiner Stiefel erkundigt. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei den Stiefeln keineswegs um eine Besonderheit oder gar um ein Kunstwerk. Der merkwürdige Charakter des Schuhwerks ist einzig und allein auf dessen separat durchgeführtes, manuelle Anbringen der bunten Steine zurückzuführen. Jackpot. Ich hole den säuberlich zusammengefalteten Post-it Zettel aus meiner Hosentasche und wende ihn auf die Seite, auf der nicht meine geplanten letzten Worte an die Welt zu lesen sind. Schnell und dennoch lesbar schreibe ich den Namen des Geschäfts auf das Papier und blicke den Cowboy mit aufrichtiger Bewunderung an. «Vielen Dank, ich hätte keine ruhige Nacht mehr verbracht, ohne zu wissen, woher Sie diese unglaublichen Stiefel haben.» Der Schnurrbart des Mannes kräuselt sich zu einem anerkennenden Lächeln und er wippt merklich in seinen Schuhen hin und her. «Weisst du mein Sohn, es braucht einen wahren Kunstkenner um die Schönheit hinter diesen Prachtburschen hier zu erkennen. Bei einem Banausen könnte das ganze wohl sogar übertrieben wirken, aber diese Leute sehen nicht, was wir sehen.» Die gasdurchtränkte Tankstellenluft steigt mir mit grösserem Wohlgefallen in die Lungen, als mir lieb ist. Der Bick des Cowboys wandert von meinem Haarschopf hinab bis hin zu den Vans und ich sehe den Anflug eines Fragezeichens in seinen Augen. «Falls du ein.. naja, ein Schuhprojekt im Kopf hast,» beginnt er schliesslich, «sei dir der Verantwortung gewusst. Es ist schon kein Leichtes, ein wahrer Cowboy zu sein. Aber mit Stiefeln wie diesen musst du dir der Verantwortung bewusst sein, die in jedem Stein steckt.» Ich tippe mir an meinen imaginären Cowboyhut. «Keine Sorge mein Herr, meine Pläne sind felsenfest und nichts und niemand wird mich davon abhalten, der Spur der Steine bis zur Mitternachtsstunde zu folgen.»
© Alexandra Müller 2023-07-25