von Theodor Leonhard
“Tausend Mann wurden in zehn Minuten gebadet. Alle haben sich aufgestellt in Reih und Glied. Dann sind wir mit Wasserschläuchen abgespritzt worden. Und fertig war es mit der Baderei!” Häufiger als jede andere Geschichte hörten wir als Kinder genau diese, wenn unser Vater von seinen Erlebnissen als Soldat während des Zweiten Weltkriegs erzählte. Immer dann fing er davon an, wenn er der Meinung war, wir würden zu lange in der Badewanne liegen. “Tausend Mann in zehn Minuten!”
Als Kind konnte ich die vielen Geschichten meines Vaters nicht richtig einordnen. Vor allem, wenn er sich wiederholte mit Erfahrungen, die für ihn wohl besonders herausfordernd waren, kam mir das bald langweilig vor. Ich wusste es ja schon.
Nicht gern ließ er sich nach meiner Erinnerung auf ein bestimmtes Bild in unseren Familienfotos ansprechen, auf dem seine erste Frau tot im Sarg zu sehen war. Sie war die Mutter meiner zwei ältesten Brüder. Als sie 1943 das dritte Kind gebar, starben sie und das kleine Mädchen kurz nach der Geburt. Mein Vater kam aus dem Krieg auf “Sonderurlaub”. An dem Abend kam er nach Hause, an dem seine Frau nachmittags beerdigt worden war. Seine zwei Buben im Alter von drei und vier Jahren musste er bei seiner Schwester zurücklassen. Nur ein paar wenige Tage blieben ihm mit seinen Jungs, bevor er wieder in den Krieg musste.
Durchaus stolz war ich auf meinen Vater, dass er als Kriegsgefangener von einem Lastwagen sprang und türmte. Das passte so gar nicht zu ihm, der eher ein sehr vorsichtiger und bedachter Mensch war. Vielleicht war es die große Sehnsucht nach zu Hause.
Als älterer Jugendlicher und als erwachsener Mensch hätte ich gerne die Geschichten meines Vaters als Soldat noch einmal und dann wahrscheinlich ganz neu gehört. Ich hätte über vieles mit ihm sprechen wollen. Das Meiste von dem, was er getan hat, ist mir nicht bekannt. Was seine Herausforderungen auch als gläubiger Mensch waren, darüber hätte ich mich gerne mit ihm ausgetauscht. Aber dann wollte er nicht mehr erzählen. “Lass mich damit in Ruhe!”, erwiderte er manchmal, wenn ich ihn fragte. Nur, wenn wir in Urlaub fuhren, erwähnte er ab und zu, dass er in seinem Leben genug unterwegs war und dass er froh sei, wenn er nicht mehr fort müsse.
Nur einmal kamen ihm seine Erlebnisse zumindest indirekt zugute. Während des Kriegs war er eine Zeitlang am Kalterer See in Südtirol. Als in den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts italienische “Gastarbeiter” auch in unser Dorf kamen, war er mit seinen bescheidenen Italienisch-Kenntnissen ein wichtiger Ansprechpartner.
Mein Vater hatte als alter Mann manchmal Albträume vom Krieg. Die Bilder von damals waren auch nach 40-50 Jahren noch nicht aus seinem Kopf und aus seinem Herzen verschwunden. Seine Seele war immer noch verwundet. Als in den Jahren 1990/91 Bilder vom damaligen Krieg im Irak im Fernsehen gesendet wurden, lief mein damals 85-jähriger Vater davon oder er sagte: “Mach den Kasten aus, Ich kann es nicht mehr ertragen!“
© Theodor Leonhard 2022-03-22