Vegetarische Kannibalen

Hanspeter Gsell

von Hanspeter Gsell

Story

Der Morgen ist angebrochen, die Sonne küßt den neuen Tag. Die See, das Meer ― wie immer man es nennen mag ― ist von seidener Glätte; nicht die kleinste Welle stört das Auge, die Sinne. Das Schiff gleitet beinahe lautlos durchs blaue Wasser, lässt langgezogene Bugwellen hinter sich. Wir befinden uns in der Provinz Milne Bay am östlichen Ende von Papua-Neuguinea. Wir ankern vor Tufi, einem kleinen Dorf auf der Cape-Nelson-Halbinsel. Markante Einschnitte erinnern an eine norwegische Fjord-Landschaft. Das Meer hat sich tief in die tropischen Wälder vorgewagt.

Der Empfang durch die Dorfgemeinschaft ist überwältigend! Wer gedacht hatte, es erwarte ihn ein langweiliger Inselbesuch, wurde maßlos ― jedoch nicht lautlos ― enttäuscht. Laut schreiend stürzen herrlich-grausig bemalte Krieger aus dem Busch, ein simulierter Angriff mit langen Speeren. Lautes Kriegsgeheul ertönt: Tufi tanzt!

Die Krieger haben ihre Körper mit einem Gemisch aus Palmöl und Asche geschwärzt, die Gesichtszüge mit weißer oder roter Farbe verstärkt. Einige haben ihre Fingernägel durch aufgesetzte Bambusstängel grotesk verlängert. In den Händen halten sie Speere, die früher mit Gift präpariert waren. Die Schutzschilde sind mit Zeichnungen und Malereien von Krokodilen verziert. Und plötzlich verstehe ich, weshalb die ersten Missionare beim Anblick eines solchen Ensembles schlicht in Ohnmacht gefallen sind. Um ihr klägliches Versagen zu kaschieren, haben sie möglicherweise die Mär von den Menschenfressern erfunden.

Natürlich gab es in Papua-Neuguinea auch Fälle von Kannibalismus. Und laut Aussagen einzelner Ureinwohner soll es auch heute noch Stämme geben, die manchmal einen Missionar bräteln. Aber, so Somi vom Stamme der Kilis, nur noch wenige Volksgruppen würden derart karnivor leben. Die Veganer unter den Kannibalen seien im Vormarsch.

Auf einem Gangdurch Tufi begegnet mir ein einsamer Wanderer. Er stellt sich vor, wir kommen ins Gespräch. Er ist Amerikaner, Historiker und Schriftsteller, wohnt hier irgendwo in einem Baumhaus und veröffentlicht alle paar Jahre ein Buch. Ich erzähle ihm, dass ich Europäer sei, auch alle paar Jahre ein Buch veröffentlichen würde, jedoch nicht in einem Baumhaus, sondern der Schweiz lebe. Diese Aussage interessiert ihn ungemein und wir vereinbaren, uns regelmässig zu schreiben.

Leider haben wir vergessen, unsere Adressen auszutauschen.

© Hanspeter Gsell 2021-02-25

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