von Julia Müller
Ein Bekannter behauptet, meine langen Beinhaare seien ungepflegt, dabei haben sie nicht mal Spliss. Ich gebe aber zu, dass sie etwas spärlich sind. Vermutlich eine Folge jahrelanger Domestizierungsversuche mit Wachs, Epiliergeräten, Pinzetten und Rasierern. Eine Frisur ist mit ihnen nicht zu machen. Wohl der einzige Grund, warum der Kapitalismus noch keine Pflegeserie für Beinhaare auf den Markt gebracht hat.
Während das kahl Rasieren des Schädels in der Gesellschaft als Rebellion gilt, kann man überall sonst am Körper seinen Protest nur mit Wildwuchs ausdrücken. Ich stelle mir ein Paralleluniversum vor, in dem es sich umgekehrt verhält. Machos, die angewidert den Mund verziehen, wenn ihr Date auch nur Stoppeln auf der Glatze hat. Frauen, die sich vorm Feiern gehen, noch mal Locken auf die Beine ondulieren. In einem Werbevideo steigt eine elegant gekleidete Frau aus dem Flugzeug. Unterhalb des Minirocks trägt sie ihre Beinfrisur streng gescheitelt. Ein Sprecher aus dem Off sagt: „Berlin. Windstärke fünf. Die Frisur sitzt.“ Eine feministische Influencerin schreibt einen langen Text darüber, wie befreiend es ist, sich die Beine zu rasieren und endlich diese lästige Pflegearbeit los zu sein.
Als ich so darüber nachdenke, erwächst in mir der Wunsch nach einer wallenden Mähne, die meine Beine sinnlich umspielt. Ich besorge mir ein paar stärkende Haarkuren mit Koffein und Werwolfextrakt. Nach einigen Wochen sieht man die ersten Ergebnisse. Der Beinflausch wird deutlich dichter. Nach zwei Monaten kann ich Haarspangen darin befestigen. Nach drei sind Flechtfrisuren möglich. Die Spitzen reichen schon bis zum Boden.
Beim Gang über die Straße hinterlasse ich neuerdings eine sauber gefegte Spur. Die Beinhaare sind inzwischen so kräftig, dass sie eigene Muskelstränge entwickelt haben. Wenn ich etwas vom Boden aufheben will, muss ich mich nicht mal mehr bücken. Mein Pelz reicht den Gegenstand einfach weiter bis zur Hüfte. Die Füße benutze ich kaum noch, stattdessen gleite ich majestätisch wie ein Rochen auf meiner Mähne durch die Stadt. Eine Eichhörnchenfamilie und diverse Vogelarten haben sich auch schon eingenistet. In meiner linken Kniekehle wohnt ein Feldhamster namens Hugo. Bevor ich abends schlafen gehe, bekommen alle noch mal eine Extranuss. Ich fühle mich wie eine Disneyprinzessin.
Auf dem Bürgersteig kommt mir ein Mann entgegen. Ich sehe in seinem Gesicht, dass er mir keinen Millimeter Platz machen wird. Er erwartet wahrscheinlich sogar, dass ich für ihn zur Seite treten werde. Früher hätte ich anstandslos den Weg frei gemacht. Aber ich bin nicht länger das unsichere Mäuschen. Ich habe mich zu einem komplexen Ökosystem weiter entwickelt. Mit einem Schwung meiner Haarpracht fege ich ihn zur Seite. Der Mann verschwindet in einer seidig glänzenden Woge, die über ihn hinweg rollt. Erst einige Straßenecken weiter gibt das Fell ihn wieder frei.
© Julia Müller 2022-08-31