Verabschiedung

Theodor Leonhard

von Theodor Leonhard

Story

Lieber Herbert G. Wir sind heute hier zusammengekommen, um Dich in die wohlverdiente (Mein Chef hätte auch früher schon daran denken können, mir den Lohn zu bezahlen, den ich wohl verdient gehabt hätte. Wie hat er mich ausgelacht, als ich ihn vor 8 Jahren um eine Lohnerhöhung gebeten habe. Vor drei Jahren hat er mir den Lohn gekürzt mit dem Hinweis darauf, ich könne nicht mehr so viel leisten in meinem Alter und deshalb sei er leider gezwungen in dieser für die Firma schwierigen Zeit … Gleichzeitig hat er sich eine neue Villa gebaut; mindestens 2 Millionen Euro) Rentenzeit zu verabschieden.

Dass so viele Menschen heute dabei sind, das zeigt, (Was zeigt das wohl? Die zwei dahinten aus der Nachbarabteilung, die bereits zwei Gläser Sekt getrunken haben, sie wollen mich doch nur noch einmal mit ihrem fiesen Grinsen provozieren. Oft genug haben sie mich gemobbt. Und über das Buffet haben sie sich auch schon hergemacht.) wie beliebt Sie bei uns waren. (Stimmt, ich hatte einige wunderbare Arbeitskollegen. Aber vor allem bei diesem Vorgesetzten habe ich von Beliebtheit nicht das Geringste bemerkt!)

Sie haben sich stets für die Firma eingesetzt! (Als ich anregte, die Arbeitsatmosphäre menschlicher zu gestalten, wurde mir mehr als deutlich signalisiert, das sei nicht im Interesse des Betriebs.)

Für Ihre Kolleginnen und Kollegen hatten Sie immer ein offenes Ohr und haben sich für Sie eingesetzt. (Wie oft bekam ich zu hören, ich solle mich um meinen eigenen Kram kümmern und mich nicht in Dinge einmischen, die mich angeblich nichts angehen, wenn ich vor allem für ausländische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter um ein Gespräch gebeten habe.)

Ihre überragende fachliche Kompetenz (Fachlich war ich schon ganz gut und habe etliche Vorschläge für eine Verbesserung unserer Produkte und unserer Arbeitsabläufe gemacht. Mehr als einmal stieß ich dabei auf taube Ohren.) hatte für uns einen unschätzbaren Wert.

Wir können uns noch gar nicht vorstellen, wie wir Sie ersetzen können. Sie sind nicht zu ersetzen! (Was schwätzt denn der heraus. Es steht doch schon lange fest, dass meine Stelle nicht mehr zu 100% ersetzt wird. Und mein Nachfolger scharrt schon längst mit den Hufen.)

Heute verabschieden wir Sie. Aber Ihre große Erfahrung ist uns zu wertvoll. Ganz bestimmt werden wir Sie immer wieder kontaktieren und Ihren Rat einholen. (Wie oft hat er diesen Satz schon gesagt. Kein einziger Rentner ist mir bekannt, der jemals von ihm noch um einen Rat gefragt wurde.)

Wir wünschen Ihnen für den vor Ihnen liegenden Lebensabschnitt mit vielen neuen Möglichkeiten nur das Allerbeste. (Als ob er sich für meinen neuen Lebensabschnitt interessieren würde. Vielleicht hält er eine ähnliche Rede noch einmal bei meiner Beerdigung. Dann muss ich sie mir wenigstens nicht mehr anhören.)


© Theodor Leonhard 2024-03-12

Genres
Romane & Erzählungen, Humor& Satire
Stimmung
Herausfordernd, Reflektierend, Angespannt
Hashtags