von Nora Beiteke
„So, du möchtest mich also nun wirklich dazu bringen sperrige, alte Texte zu lesen?“ Seine grünen Katzenaugen schauten mich skeptisch an, während ihm eine Strähne seines langen grauen Haares ins Gesicht fiel. Ich lächelte. „Keiner kann in Zeiten, in denen unsere Aufmerksamkeit eine Ted Talk Spanne lang ist noch verlangen, dass du 500 Seiten liest. Aber du unterschätzt die Magie der Bücher. Sie eröffnen dir neue Wege, neue Gedanken, eine ganz neue Identität. Sie können ein Feuer in dir entzünden und deine inneren Grenzen sprengen. Sie können dich ermächtigen und dir alle Hürden aus dem Weg räumen. Wer zögert noch dem Chef zu widersprechen, wenn er liest wie Galileo unter Todesangst der Kirche widerspricht um der Wahrheit willen? Wer kann gegenüber der Drohung eines Krieges still bleiben, wenn er Im Westen nichts Neues las? Welche Frau kann dem widerstehen, der Casanovas Tagebücher liest? Welche Karriere steht dem offen, der Machiavelli studiert? Ich will dir fünf Bücher zeigen, drei Sätze aus jedem Buch vorlesen. Du schaust, welches die Saiten in deinem Inneren zum Klingen bringt. Dann lesen wir zusammen 20 Seiten, die 20 Seiten, die ich destilliert habe als Essenz des Werkes.“ Ich hatte sein Interesse geweckt. „Du glaubst also, du kannst mich mit 3 Sätzen einen Funken in mir entzünden, der mich dazu bringt, 20 Seiten mit dir zu studieren? Dann lass mich hören“.
Kästner – Fabian „Und sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, dass sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden. Es handelt sich um eine Antinomie.“
Hesse – Steppenwolf „Und so lagern um die Masse des echten Bürgertums weite Schichten der Menschen, deren jede dem Bürgertum zwar entwachsen und für ein Leben im Unbedingten berufen wären, deren jede aber, durch infantile Gefühle der Bürgerlichkeit anhängend und von ihrer Schwächung der Lebensintensität ein Stück weit angesteckt, dennoch irgendwie im Bürgertum verharrt, ihm irgendwie hörig, verpflichtet und dienstbar bleibt.“
Remarque – Im Westen nichts Neues „Wir sind gefühllose Tote, die durch einen Trick, einen gefährlichen Zauber noch laufen und töten können.“
Wilde – Das Bildnis des Dorian Gray „Nichts kann die Seele heilen als die Sinne, genauso wie nichts die Sinne heilen kann als die Seele.“
Crowley – Magick „Magie ist die Wissenschaft und Kunst, Veränderungen gemäß dem Willen herbeizuführen.“
Er lächelte. „Mir steht nicht der Sinn nach Moralisierung und Düsternis. Doch ich gestehe, im Zitat von Wilde finde ich ein Versprechen von sinnlicher Freude und im Zitat von Crowley finde ich eine Fülle von Gestaltungsmacht, die mich anspricht.“ Ich war nicht verwundert. „Du hast dir gezielt zwei Denker ausgesucht, die sich weit jenseits der gesellschaftlichen Normen bewegen, Freidenker und Entdecker. Ich werde dich nicht enttäuschen. Lass mich dir mit Wilde zeigen, welche exquisiten Verlockungen Worte bergen können und mit Crowley belegen, wie Worte zu Visionen und Realitäten werden.“ Ich hielt ihm meine ausgestreckte Hand hin, und er nahm sie mit leuchtenden Augen.
© Nora Beiteke 2025-03-12