Vergessen werden

Benedikt

von Benedikt

Story

Er fragt sich, was von der Welt verschwinden wird, wenn er stirbt. Tag für Tag sterben abertausende Menschen und mit ihnen die Existenz bestimmter Dinge. So will es diese seltsame Realität. Es ist ganz einfach: Trägt jemand zum Zeitpunkt des Todes einen Zettel bei sich, auf dem dieses Ding vermerkt ist, wird es in null Komma nichts von der Welt getilgt, sobald sein Herz aufhört, zu schlagen. Ebenso verschwindet es aus den Köpfen der Menschen, als hätte es nie existiert. Es funktionieren keine Aufzählungen, keine abstrakten Begriffe und auch nicht mehrere Zettel auf einmal. Niemand weiß, wie genau es gelingt, aber seit Beginn des Phänomens haben sich alle daran gewöhnt. Es verschwanden bereits viele Schusswaffenmodelle, Schlagringe und verbotene Symbole. Wenn er darüber nachdenkt, glaubt er an das Gute im Menschen. Selbst, wenn sich Krieg, Hass und Unterdrückung nicht löschen lassen, finden Sterbende oft einen Weg, das Grausame mitzunehmen und die Welt ein wenig friedlicher zurückzulassen. Einige andere nahmen gelbe Tulpen, Billardtische, nach Rosen duftende Kerzen, gepunktete Röcke und Sombreros mit. Auch Lebewesen konnten verschwinden, aber die Angst unter den Gesunden und Glücklichen blieb aus. Sie vermissten schließlich niemanden. Aber der Gedanke war da: Ließ der Partner womöglich das Haustier verschwinden in dem Glauben, es tauche im Jenseits an seiner Seite auf? Denn die Überlebenden wussten nicht, wohin die Dinge und Lebewesen gehen. Niemand entdeckte je wieder Plüschbären, Hirschkäfer oder Rhododendren. Es suchte auch niemand nach ihnen, weil sie nicht wussten, dass es sie einst gab. Keine Bilder, keine Geschichten, keine Erinnerungen.

Er hatte einst einen Bruder. Seine Eltern starben bei einem Autounfall während er und sein Bruder gemeinsam am Tisch aßen. Er wusste nicht, dass seine Mutter einen Zettel bei sich trug, auf dem „Hugo!“ stand. Wollte sie sich an irgendetwas erinnern? Ihn besuchen kommen? Ihn anrufen? Oder stand sein Name mit Absicht darauf? Diese Fragen konnte er nicht beantworten, weil er sie sich nicht stellte. Sein Bruder verschwand einfach vom Tisch und aus seinem Gedächtnis. War die Liebe seiner Mutter zu Hugo größer als zu ihm und wollte sie ihn deshalb mitnehmen? Oder verschonte sie ihn und ließ ihn dennoch ohne Familie zurück? Ohne jemanden, dessen Namen er auf einen Zettel schreiben könnte, bevor er starb. Er musste unbedingt etwas aufschreiben, denn der Beschluss zu sterben stand bereits. Was noch fehlte, war der Begriff auf dem Zettel.

Er beschloss, der Welt etwas zu nehmen, das ihr am meisten bedeutete: Papier.

© Benedikt 2022-08-30

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