Vergissmeinnicht

Luise Barth

von Luise Barth

Story

Wenn ich abends mit der Bahn fahre, wähle ich gerne einen Einzelplatz. Eng und ungemütlich. Am liebsten im hintersten Abteil. Ich weiß nicht genau warum, wahrscheinlich habe ich zu viele Filme gesehen. Junges Mädchen, allein in der Bahn, draußen ist es dunkel, eine Gruppe Aggressiverdie nach Alkohol stinken. Sowas halt. Mir ist noch niemals etwas Ähnliches passiert aber trotzdem. An diesem Abend ist mein Abteil fast leer. Nur eine ältere Frau mit Kopfhörern. Was sie da wohl hört? Ich nehme den Einzelplatz hinter ihr. Die Bahn fährt ruckartig an. Verschwommene Gebäude fliegen vorbei. Dann halten wir und die Türen öffnen sich. Ein Mann steigt ein, zusammen mit einer Wolke aus Schnaps und einem jungen Mädchen. Langsam torkeln sie auf mich zu und lassen sich auf einer Zweierbank nieder. Eigentlich drückt er sie mehr auf den Platz neben sich. „Setzen!“ Er zieht eine Musikbox aus einer Plastiktüte. Das Lied kenne ich nicht. Zwischen unverständlichem Rap höre ich immer wieder das Wort „Vergissmeinnicht“. Er lehnt sich etwas nach vorn und kneift ihr in die Wange. Es muss wehgetan haben aber sie gibt keinen Mucks von sich, vielleicht der Alkohol. Ihm fehlt ein Finger und der Handrücken ist voller Narben. Er grinst mich anzüglich an. „Willste mal sehen Kleine?“ Ich starre auf die Hand unter meiner Nase. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Am liebsten hätte ich ihn darauf hingewiesen, dass ich unter keinen Umständen von ihm „Kleine“ genannt werden möchte aber ich habe zu viel Angst ihn zu provozieren. „Super“, piepse ich. Was anderes ist mir nicht eingefallen. Er rutscht etwas weiter an mich. „Die Hand kann so einiges, vor allem kann sie noch super zuschlagen, wenn mir was nicht gefällt.“ Beifall heischend sieht er die junge Frau an, die in ihrem Sitz zusammengesunken ist. Ob sie wohl Erfahrung damit hat? Sie nuschelt was Unverständliches wie, „so muss das sein.“Er zieht sich etwas zurück und ich starre auf mein Handy, tue so als wäre ich beschäftigt, wische die Galerie hoch und runter. Noch fünf Stationen. Er nimmt einen großen Schluck Wodka aus einer Glasflasche, so als wäre es Wasser. Die Flasche ist fast leer. Dafür spricht er aber noch recht deutlich. Anders als sie. Ich wage es kurz hochzuschauen. Sie ist noch jünger als ich dachte, höchstens 18. Hübsches Gesicht aber leere Augen. Ich versuche sie anzulächeln. „Auch nen Schluck, Kleine?“ Er beugt sich wieder zu mir nach vorne. „Nein, danke.“ Schnell wieder das Handy, die Galerie. Noch drei Stationen. Die Zeit vergeht nicht. „Guck mal, was ich schönes habe“, er packt sie wieder an der Wange und zieht daran. Aus der Jackentasche befördert er ein Tütchen mit weißem Inhalt. Augenblicklich wird sie wach. „Gibst du mir was ab?“ Sie bettelt richtig. „Wenn du brav bist, vielleicht.“ Die Bahn hält, er steht auf und zieht sie hoch. „Komm wir steigen aus, wird ne geile Nacht.“ Sie wankt ihm nach, dreht sich nochmal um. Das Lied aus der Musikbox startet erneut. Vergissmeinicht.

© Luise Barth 2023-03-31

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