von Lena Hedemann
Das alles hat mich so tiefgreifend erschüttert, aber es hat gedauert, bis ich das anerkennen kann. Ich will das alles nicht fühlen und wahrhaben. Und Wut ist leichter zu ertragen als Ohnmacht. Aber solange ich die Ohnmacht nicht fühle, kann sich auch nichts richtig verändern. Ich glaube nicht, dass mir das ohne Unterstützung meiner Therapeutin gelungen wäre, mich dem zuzuwenden. Die Ohnmacht ist nicht erst durch Romans Tod entstanden, ich kannte sie schon vorher. Genau wie das Gefühl, im Stich gelassen zu werden. Das zu fühlen, was ich so lange vor mir selbst versteckt habe, ist heftig und schmerzhaft. Aber auch befreiend und es bringt etwas in Bewegung. Es hilft mir das alles – und mich selbst – besser zu verstehen. Mich wirklich zu spüren. Indem ich Ohnmacht, Wut und Scham zulasse, kann ich auch die Freude, die Liebe und die wahnsinnige Schönheit des Lebens intensiver fühlen. Und dann sehe ich plötzlich auch, dass ich in dem ganzen Corona-Lockdown-Problem gar nicht so hilflos bin und welche Möglichkeiten es gibt.
Für mich war es so entscheidend einzugestehen, dass ich ein Problem habe und ich Hilfe brauche. Und sie auch verdient habe. Irgendwie dachte ich zu lange, so schlimm sei es doch gar nicht und ich stelle mich nur an. Es gibt doch Menschen, denen es viel schlechter geht. Aber demnach hätte ja kaum jemand Anspruch auf Hilfe. Schlimmer geht immer. Egal, wie schlimm etwas ist, es gibt garantiert irgendwo auf der Welt einen Menschen, dem es noch schlechter geht. Deshalb macht diese Haltung keinen Sinn. Außer ich will mir – oder jemand anderen – den Schmerz absprechen oder nicht zugestehen. Wann ist etwas schlimm genug? Das kann in Wirklichkeit nur ich selbst beurteilen. Jeder hat das Recht auf Unterstützung, unabhängig davon, wie groß oder klein die Herausforderungen erscheinen mögen. Wenn ich meinen eigenen Schmerz nicht anerkenne und mich damit gesehen fühle, tendiere ich dazu, andere abzuwerten und ihnen zu sagen, dass sie sich nicht so anstellen sollen. Ich denke dann: „Mir ist schon Schlimmeres passiert, und mich sieht auch niemand.” Diese Haltung verhindert, dass ich anderen mit Mitgefühl begegne. Je mehr Mitgefühl ich mit mir selbst habe, desto wohlwollender kann ich auch anderen gegenüber sein.
Ich merke aber, wenn ich mir zugestehe, dass etwas für mich schlimm (genug) ist, dann gestehe ich mir auch ein, nicht perfekt und unverwundbar zu sein. Und das hat mir eine wahnsinnige Angst gemacht. Das war ein weiter Weg dahin, bis das für möglich war. Aber auch das, was mir am meisten geholfen hat. Wie Brené Brown es in ihrem TED-Talk „Verletzlichkeit macht stark” so passend auf den Punkt bringt: Indem wir unsere eigene Verletzlichkeit akzeptieren und uns öffnen, beugen wir der Gefahr vor uns abzukapseln. Durch das Öffnen und Verletzlich zeigen, konnte eine Verbundenheit entstehen – zu mir selbst und zu anderen. In dieser Verbundenheit heilen meine Wunden. Diese Verbundenheit ist das, was das Leben für mich wirklich lebenswert macht. Ich weiß zu schätzen, dass ich so viel Schönes fühlen kann und zweimal die große Liebe finden konnte. Und Geborgenheit erfahren darf, in der ich mich angenommen fühle und so zeigen kann, wie ich bin.
© Lena Hedemann 2024-01-21