Verpestet

Sabrina Bach

von Sabrina Bach

Story

Louis holte tief Luft und ließ sie explosionsartig aus seinem Mund entgleiten. Mit Staunen betrachtete er die Wimper, wie sie federleicht auf den Boden hinabsank. Louis begann sich mit der Zeit immer mehr Wimpern auszureißen, weil er nicht warten konnte, bis eine abfiel und er wieder einen Wunsch bekam. Er brauchte mehrere täglich, denn obwohl er sich immer dasselbe wünschte, war es noch nie in Erfüllung gegangen. Er wünschte sich nichts mehr als endlich erwachsen zu sein, denn als Kind war alles zu schwer, das Leben unerträglich. Man kann sich nicht wehren und keiner glaubt einem, wenn man versucht die Wahrheit zu sagen.

Er sprach es nie bei anderen Erwachsenen an und sie fragten auch nie, denn blaue Flecken bei Kindern waren nicht ungewöhnlich und der kleine Louis war schon immer ungeschickt gewesen. Außerdem dachte er, das, was daheim vor sich ging, sei normal. Immerhin war es nicht das erste Mal gewesen, dass sein Vater mit seiner Faust ein Loch in die Wand geschlagen hatte, und auch Louis’ Freunde berichteten von ähnlichem. Das war wohl einfach so, dass Väter sich nicht halten konnten. Sie waren nun mal Männer. Louis hoffte, nie in diese Rolle hineinzuwachsen. Sein Vater kommentierte es nicht weiter, wenn er Louis’ älteren Bruder schlug, und er entschuldigte sich auch nicht. Das war Alltag, warum sollte man sich für ein Ritual auch entschuldigen? Denn man stand wieder einfach nur wie festgewurzelt dort, machte keinen Mucks, bis man sah, wie er die Hand erhob und langsam die Tür ins Schloss fiel. Es tat Louis weh daran zu denken, was er mit ihnen gemacht hat. Wie er sie gegeneinander aufgehetzt und einander als Rivalen sehen hat lassen. Kinder, die um die Aufmerksamkeit ihres Vaters buhlen mussten. Auseinandergerissen von einer Person, die sie nie verdient hatte.

Schneller als er jemals bemerken hätte können, wuchs Louis auf. Er entwickelte eine Angststörung, doch hat er nicht sagen können, seit wann er sich so fühlte. Es wirkte so als hätte er bereits sein gesamtes Leben diese Traurigkeit mit sich mitgeschleppt. Was für eine Hoffnung bleibt da noch auf Besserung, wenn man schon bei der Geburt verpestet wurde? Louis Freundin wollte ein Kind von ihm und obwohl er zunächst „Nein“ gesagt hatte, ließ er sich doch darauf ein. Denn sie würde eine tolle Mutter sein, vielleicht sogar so toll, dass sie seine Abwesenheit ausgleichen könnte. Als sein Sohn auf die Welt kam, konnte er ihn nicht halten. Er hatte Angst ihn zu berühren, als würde er all das Schlechte, das sein Vater getan hatte, auf ihn übertragen und er würde es durch seine Haut absorbieren können. Louis stand mit Tränen dort, doch waren es nicht jene der Freude. Er schämte sich, denn wie hatte er erwarten können, dieses Kind großzuziehen, ohne ihm eine Erbsünde mitzugeben, ohne ihn zu verletzen und wie sein Vater zu werden? Wie konnte er ein Vater sein, wenn er doch selbst nie einen hatte?

© Sabrina Bach 2022-08-24