Verschwommen

Julia Kantor

von Julia Kantor

Story

Nachts sind alle Katzen grau. Das Sprichwort kommt mir in den Sinn, wĂ€hrend ich in die Tiefen von Berlin blicke. Dunkelheit rast an mir vorbei, die sich mit den Schildern der U-Bahnhöfe abwechselt. Alexanderplatz. Rotes Rathaus. Museumsinsel, ich steige aus. Ein Sternenhimmel spannt sich ĂŒber mich. Der wohl schönste Nachthimmel in Berlin. Ich verlasse den U-Bahn-Schacht und werde wieder ein Teil der Welt. Es ist kalt. Sonne und WĂ€rme, das ist es, was man in diesen Monaten in Berlin bitter nötig hat. Vor mir ist das neue Humboldtforum wo einst das Stadtschloss gestanden hat, kann man von halten, was man möchte, doch es ist ganz nett anzusehen. In letzter Zeit ertappe ich mich hĂ€ufiger dabei, wie ich gegen Abend orientierungslos in der Stadt herumschlendere. Es ist okay, ein Teil der Masse zu werden, in ihr zu verschwinden. Und doch verschwinde ich nicht ganz. Bleibe eher ganz nah bei mir. FĂŒhle mich geborgen in meinen Klamotten, die mich warm halten. Ich traue mich sogar auch an Orte, die nachts nicht super belebt sind. Treptower Park, Landwehrkanal oder an die Spree hier direkt in Berlin-Mitte. Wasser beruhigt mich, auch wenn es schwarz, manchmal spiegelglatt, neben mir in seinem Becken fließt. Und wenn ich mir dabei Musik in die Ohren stecke, bin ich komplett eingeschlossen in meiner ganz eigenen Blase, und fĂŒhle mich sicher. „Ey Kleine, ganz allein unterwegs?“ Ich zucke zusammen. Doch es ist nur ein Kerl, der an mir vorbeigeht. Meine Geborgenheit bekommt einen Riss und kann mich nicht mehr schĂŒtzen. Meine Blase platzt. WĂ€re der Typ stehen geblieben, ich wĂ€re direkt gerannt. Außer uns beiden war niemand in Reichweite. In solchen Momenten frage ich mich, wie wahrscheinlich es ist, dass ich mir diese Worte eingebildet habe. Es sind Sekunden in der Welt des Mannes, doch in mir hallen diese Sekunden nach. Ich ignoriere ihn und versuche, die aufkommende Wut in WĂ€rme zu verwandeln. Keiner dieser Kommentare ist es wert, lĂ€nger als nur einen Wimpernschlag beachtet zu werden. Und keine dieser Sekunden ist es wert, mich lĂ€nger als nur einen Wimpernschlag zu begleiten. Ja, ich bin allein unterwegs. Was dagegen?! Ich kann nicht anders und muss gedanklich auf den Kommentar antworten, der schon damit begonnen hat, sich in mein GedĂ€chtnis einzunisten. Sekunden können zu widerhallenden Stimmen werden. Ich ziehe mir die MĂŒtze tiefer ins Gesicht, verstecke meine Haare in meinerJacke. Und merke, wie sich meine HĂ€nde in den Jackentaschen zu FĂ€usten ballen. Nur langsam fĂŒhle ich mich wieder gut. Ich atme erleichtert ein und spĂŒre, wie sich mein Brustkorb hebt. Meine HĂ€nde werden augenblicklich lockerer, ich bemerke erst jetzt, dass sich meine NĂ€gel ins Fleisch gebohrt haben. Ich blicke mich vorsichtig um. Dabei streife ich die Fensterscheibe eines parkenden Autos. Ich erkenne mich nicht. Nur eine verschwommene Person sehe ich darin, undefinierbar, wer sie ist. Nachts sind alle Katzen grau. Und jetzt stimmt das Sprichwort.

© Julia Kantor 2022-02-14

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