Sie ist immer noch nicht zu Hause. Wir streiten häufig. Aber sie kam immer nach Hause – egal was passierte. Im Wohnzimmer schlägt die Uhr zur vollen Stunde. Es ist vier Uhr nachts, und ich habe noch kein Auge zu gemacht, obgleich ich morgen eine Matheklausur schreibe. Diese dämliche Matheklausur ist schuld, dass wir uns gestritten haben und sie noch einmal ins Büro gegangen ist.
Am nächsten Morgen sitze ich immer noch in der gleichen Position da. Meine Mom ist nicht aufgetaucht. Die ganze Nacht über nicht. Dennoch schnappe ich mir meinen Rucksack und mache mich auf den Weg in die Schule. Ich habe noch genug Zeit, einmal ins Büro zu gehen. Unterwegs rufe ich sie an, es springt aber nur die Mailbox an. Das Büro ist verschlossen. Ich fluche. Jetzt komme ich auch noch zu spät zur Schule!
Die Stunden rauschen an mir vorbei, ohne dass ich etwas mitbekomme. Ich möchte mir einreden, dass ich wütend auf Mom bin, aber das ist eine Lüge. Ich habe Angst um sie. Ich habe Angst, dass ihr auf dem Weg in ihr Büro etwas zugestoßen ist. Es knistert in den Lautsprechern und plötzlich wird ein Name ausgerufen. Der Name Joana McKenzie. Mein Name. Ich fange an zu zittern, während ich unter den neugierigen Blicken meiner Mitschüler auf den Flur hinauswanke und ins Sekretariat renne. Ich renne, aus Angst zu spät zu kommen. Im Sekretariat sind die beiden Sekretärinnen und zwei weitere Personen. Ein Mann und eine Frau. Nicht meine Mom. Ihre Gesichter sind ernst und mir läuft es kalt den Rücken herunter. Am liebsten würde ich auf dem Absatz kehrt machen. Ich bemerke die Waffen an den Gürteln der beiden Fremden. Jetzt bin ich mir sicher. Es sind Polizisten und sie wären nicht hier, wenn nichts passiert wäre. Nein! Ich muss hier weg! Trotzdem bewege ich mich nicht.
Ich folge den beiden Polizisten in einen anderen Raum. Es ist stickig. Ich habe das Gefühl, keine Luft zu bekommen.
“Du bist Joana McKenzie?”, erkundigte sich der Polizist. Ich nicke, unfähig, ein Wort herauszubringen.
“Wann hast du deine Mutter das letzte Mal gesehen?” Meine Kehle wird eng. Dennoch zwinge ich mich die Frage zu stellen: “Was ist mit ihr?”
“Es tut mir leid. Wir haben sie heute Nacht tot aufgefunden.” Sie wäre nie zurückgekommen. Ich habe umsonst gewartet. Ein Schrei bricht aus mir heraus. Ich weiß nicht, ob ich traurig, wütend oder entsetzt sein soll. Tränen rennen meine Wange herunter. Unaufhaltsam. Genauso unaufhaltsam wie die Tränen überrollt mich die Wahrheit. Sie ist tot. Sie ist meinetwegen tot. Denn sie hat meinetwegen das Haus verlassen. Ich muss sie sehen. Ich gehe zur Tür.
“Joana…” Jemand hält mich fest. Unwirsch schüttele ich den Arm ab. Ich muss sie sehen. Ein letztes Mal. Der Griff verstärkt sich und ich stoße einen wütenden Schrei aus, versuche mich zu befreien. Aus meiner Kehle kommen abgehackte Schluchzer, aber der Griff wird nicht gelockert. Stattdessen werde ich von der Tür weggezogen. Ich habe das Gefühl, als würde man mir damit meine Mom entreißen, als würde man mich ihr wegnehmen.
© Fabienne Biermann 2021-07-12