von Marie Schomaker
Jenny
„Ich glaube deine Mutter kann mir am besten selbst erzählen, wie das passiert ist. Würdest du bitte im Flur so lange warten, bis ich mit deiner Mutter zu Ende gesprochen habe? Dauert auch nicht lange.“ Ich nicke stumm und schaue dabei kurz zu meiner Mutter, die mich immer noch verängstigt anguckt. Aber da muss sie kurz alleine durch, auch wenn ich ihr gerne beistehen würde. Ich verlasse das Zimmer und beschließe, mir ein Wasser aus dem Automaten zu holen, doch ein junger Mann steht davor und ich muss warten. Ein kurzer Blick auf die Uhr. Schon sechzehn Uhr und ich muss später noch die ganzen Hausaufgaben erledigen. Der junge Mann dreht sich um und ich kann nicht glauben, wem ich in die Augen schaue. Ich will am liebsten davonlaufen, um jetzt seinen Fragen aus dem Weg zu gehen, aber er lächelt mich nur an und sein Lächeln erwärmt mein Herz ein Stückchen. „Was möchtest du vom Automaten?“, fragt mich Tim. Ich muss mich erstmal sammeln, bevor ich antworten kann. Was macht er bloß hier? „Einfach nur ein Wasser, aber ich kann das selbst zahlen.“ Er schüttelt seinen Kopf. „Ich weiß, aber lass mich diese paar Cent ausgeben.“ Ich nicke mit einem unschuldigen Lächeln und schon gibt mir Tim ein Wasser: „Musstest du deswegen aus dem Unterricht?“ Tim zeigt dabei auf das Zimmer, aus dem ich rausgekommen bin. „Ja.“ Mehr traue ich mich nicht zu sagen. „Ich bin hier mit einer Kollegin von meinem Vater. Sie muss kurz eine Mutter befragen, die wohl unter dem Einfluss von Alkohol gestürzt ist.“ Ich nicke nur anteilnahmslos. „Sie ist deine Mutter, oder?“ Ich sollte wohl jetzt mit Nein antworten und lügen, aber ich kann es nicht. Schon immer wollte ich darüber sprechen und es nicht weiter totschweigen, in der Hoffnung, dass es eines Tages besser wird. Erschöpft lasse ich mich auf den Boden neben dem Automaten fallen und starre das Wasser an. Er wird es nicht verstehen. Nicht mal mein Freund Leonard würde es verstehen. Er hat meine Mutter nie kennengelernt. „Es ist also nicht zum ersten Mal passiert.“, sagt Tim und setzt sich neben mich auf den kalten, klinischen Krankenhausboden. „Das erste Mal war vor drei Jahren als sie ihren Job als Kindermädchen verloren hat. Da hat sie zwei Flaschen Wein getrunken und zum Schluss lag sie für mehrere Stunden in ihrer eigenen Kotze. Nicht ansprechbar. Ich wollte den Notruf rufen, aber ich hatte Angst und habe es nicht getan. Ich wünschte, ich hätte es getan.“ Dabei muss ich mir eine Träne verdrücken. Tim streicht mir fürsorglich über den Rücken und ich fühle mich nicht entblößt, sondern verstanden. „Es ist nicht deine Schuld. Du hast probiert, ihr zu helfen.“ Ich nehme einen Schluck von dem kalten Wasser und ich kann genau spüren, wie es durch meine zitternde Kehle fließt. „Als ich dreizehn war, habe ich probiert den Alkohol vor ihr zu verstecken. Sie ist immer wahnsinnig geworden und sie hat rumgeschrien. Ich habe mir immer die Ohren zugehalten und mich im Schrank versteckt. Sie hat schlussendlich immer nach einer Weile den Alkohol gefunden, also hörte ich damit auf.“ Es tut weh, es auszusprechen und dabei fühlt es sich auch gleichzeitig so befreiend an. „Sorry, ich sollte dir das nicht erzählen.“ Ich will aufstehen und gehen, aber Tim greift nach meiner Hand und zieht mich zurück. „Nein. Es belastet dich, was komplett verständlich ist.“ Ich nicke und dabei kommen mir fast wieder die Tränen, die ich versuche, so gut es geht, zu unterdrücken.
© Marie Schomaker 2025-08-29