Verstehst du es endlich?

Evelyn Weidner

von Evelyn Weidner

Story

Sie hasste sich selbst dafür, dass wir unser Kind verloren, obwohl sie nichts dafür konnte. Sie hasste sich und beschuldigte sich selbst, was völlig plausibel war für eine Mutter. Doch ich dachte immer, dass sie nichts dafür konnte. Sie solle sich nicht ewig die Schuld geben, denn ich und sie wussten, dass sie ihr Leben geben würde für unser Kind. Für unser Baby. Wohl möglich, dass das, das Ähnlichste an Schuldgefühl und Verleugnung war, das ich je spüren würde.

Ich wünschte, es wäre umgekehrt. Ich wünschte, ich wäre der Held in ihrer Geschichte, und nicht sie in meiner. Doch so war es. Sie war meine Heldin, obwohl das ein überaus falscher Begriff war. Oder war sie es?

„Wie lange bleibst du bei mir, Milene?“, ich fürchtete den Abschied von ihr. Ich fürchtete den Moment sie gehen zu lassen. Doch mein Herz spürte ihn immer näher antreten.
„Wir werden uns wieder sehen, in einem anderen Leben, Martin“, ihre Stimme war Nebel, so dicht und wie ein Hauch. So mysteriös und so unberührbar. Sie stand auf und setzte sich neben mich. Als sie mir so nahe war, nahm ich ihre Hände und küsste jeden Finger. Ich küsste ihre Wunden, ihre Schmerzen. Es tat mir so weh in der Seele. So weh, dass ich hoffte, ich würde ihren Schmerz auch spüren. Als könnte ich ihre Schmerzen weg-weinen. Durch das Flattern meiner Wimpern vernahm ich blaues Licht aus der Ferne. Ich schaute auf und sah, wie Milene bereits nach draußen sah. Unser Zug nahm eine langgezogene Kurve, sodass man ihn weit vorne schon sah. Bereits am Bahnhof fiel mir auf, wie lang der Zug eigentlich war. Er zog sich vor und hinter uns in die Länge. Das blaue Licht kam von einem Krankenwagen, so viel konnte ich durch die verschwommene Sicht meiner verweinten Augen erkennen. Der Weg versperrt von dem Zug. „Ich lag so lange in der Kälte, benutzt und zerbrochen“

Ich sah hoch zu dem traurigen Mädchen und wollte nicht aufhören sie zu küssen. Ihr Blick senkte sich zu mir und sie griff mit ihren Fingern an mein Gesicht. Sie war eiskalt. Schneeflockenfinger.

„Ich erfriere, Martin“, ehe ihre Lippen die Worte losließen, zog ich sie zu mir und hielt sie an mich. Ich wollte sie halten, wärmen, lieben, alle Scherben zusammenbringen. Ich konnte nicht genug von ihr in meinen Händen halten. Seelenzug. Mein Gedanke von vorhin fiel mir wieder ein.
„Du bist in dem Krankenwagen. Du hättest den Zug durch das Nichtstun aufhalten können. So hast du mich gerettet und dich sterben lassen“

„Deine letzte Frage Martin“, ich sah sie an, volle sanfte Lippen, rosige Wangen und eine Schleife im Haar.
„Würdest du mich lieben, wäre das Schicksal nicht unser Verräter?“

Ihre Lippen formten sich zu einem Lächeln, und ehe ich mich versah, lagen sie auf meinen.

„Das tue ich bereits“, sie griff an ihre Kreuzkette und schaute aus dem Wagon raus, wie fuhren direkt an dem Krankenwagen vorbei. Kein Moment verging, da erloschenen die blauen Lichter und es wurde wieder dunkel.
Mein Herz blieb stehen und ohne mich umzudrehen, wusste ich, dass Milene weg war.

© Evelyn Weidner 2024-03-04

Genres
Romane & Erzählungen