Verwahrlost

Kornelia Fussenegger

von Kornelia Fussenegger

Story

Der muffige Geruch verstärkt sich, je näher die Haustür kommt. Ich arbeite für den Sozialdienst. Es ist Freitag Nachmittag und ich komme mit dem Motorrad zum Erstbesuch. Der Geruch zwingt mich, durch den Mund zu atmen. Als sich die Tür langsam öffnet, erscheint im Türrahmen ein einzelnes nacktes , sehr langes Bein, eine dreckige Unterhose und mein Kopf ist beinahe im Nacken angelangt, da erblicke ich über dem Unterhemd Rübezahl! Einbeinig! Wir fixieren uns ungläubig. Seine rötlichen Haare stehen in alle Richtungen. Er sieht eine kleine Frau im Lederdress. Nach der ersten Schreckminute stelle ich mich vor und er läßt mich eintreten. Er öffnet die Haustüre nur einen Spalt. Links hinter dem Eingang ist eine Tür und rechts eine Miniküchenzeile. Danach beginnt der Wohnraum. Durch das Fenster scheint die Sonne. Außer einem Bett und einem Sessel ist der Raum leer. An den Wänden stapeln sich Bücher. Vom Boden bis zur Unterseite der Fenster. An der anderen Wand bis zur Zimmerdecke. Eine Pizzaschachtel mit Pizzaresten liegt am Boden. Woher der penetrante Geruch kommt, kann ich nicht erkennen. Er bietet mir den Holzstuhl an und setzt sich auf die Bettkante. Ich erkläre ihm meine Aufgabe und er hat keinerlei Einwände, als ich ihm vorschlage, einmal pro Woche zu kommen und mit ihm die Wohnung zu säubern. Dann hätten die Beschwerden der Nachbarn ein Ende. Ich suche immer einen Weg zum Wiederkommen. Nur so kann Vertrauen entstehen und eine passende Hilfe gefunden werden. Wir plaudern ein bisschen und er ist begeistert, dass ich mit dem Motorrad fahre. Ich frage ihn vorsichtig nach seinem Tagesablauf und versuche, nicht auf das Bett zu starren. Dann halte ich es nicht mehr aus. “Schlafen sie auf dem Brett mit der Militärdecke? Wo sind Matratze und Bettzeug?”

“Das Leben ist weniger mühsam ohne Bettwäsche. ” An das Brett habe er sich gewöhnt. “Das ist auch gesund, ” meinte er. “Und der Geruch kommt vom Müll,, sagt er plötzlich. “Von welchem Müll?” Er hat vorübergehend den Mull in der Dusche abgestellt. Ich darf die Duschtür öffnen. Die Duschkabine ist vollgestopft mit Müllsäcken. Er starrt mir angriffslustig ins Gesicht. Als ich ihn so betrachte, wird mir klar, dass er den Müll nicht entsorgen wird. Meinen Auftrag werde ich nicht erfüllen können. Kampflos will ich nicht aufgeben :“ Aber eine Dusche wäre doch bestimmt angenehm. „

Er nähert sich langsam. Wenn er sich bewegt, nimmt er den Holzsessel als Gehhilfe.

“Zuerst muss ich den Müll aus der Dusche holen”, meint er, ohne zu lächeln. “

Wir könnten das gemeinsam erledigen “. Er tritt ganz nahe zu mir, zu nahe, und seine Stimme klingt plötzlich bedrohlich: ”Es ist mein Müll! Meiner! Der geht sie nichts an. Raus hier!“

Ich verberge meinen plötzlichen Anflug von Angst und hole meine Sachen. Die Visitenkarte liegt auf dem Stuhl: “ Sie können mich jederzeit anrufen. ” Beim Verlassen der Wohnung bemerke ich weitere Mullsäcke hinter der Eingangstür. Ich werde wieder kommen müssen. Mit einer neuen Strategie.

© Kornelia Fussenegger 2022-03-02