von Pia Wagner
Im ersten Moment, als ich Lex sah, dachte ich: Mit dieser Frau möchte ich befreundet sein. Sie stand am Fenster des kleinen Zimmers, das wir uns teilen. Ihre wilden Locken wurden von der Sonne beschienen. In ihren tätowierten Händen hielt sie eine Kamera, die sie auf das Fenster gerichtet hatte. Sie ist schon ein paar Wochen in der Klinik.
„Ich möchte herausfinden, wieso ich Depressionen habe“, antwortet sie, als ich auf dem Weg zu unserem Zimmer frage, wieso sie eigentlich hier ist. So wie sie das sagt, klingt es, als wäre ihre Depression ein großes Mysterium, das es zu ergründen gilt. Nach allem, was ich in den letzten Tagen von ihrer Lebensgeschichte mitbekommen habe, finde ich es überhaupt nicht verwunderlich, dass sie krank geworden ist. Aber das spreche ich nicht aus.
„Und du?“, fragt sie. Ich weiche einer riesigen Vase mit Plastikblumen aus, die auf dem grauen Teppichboden im Flur steht.
„Jedenfalls nicht wegen der schönen Inneneinrichtung“, scherze ich und Lex grinst. Ich bin ihr dankbar, dass sie einen Witz über den Geschmack der Klinikeinrichtung zu machen, anstatt weiter nachzubohren.
„Wieso sind Sie hier?“, fragte mich auch die Therapeutin beim Aufnahmegespräch. Ich schwieg einen Moment, bevor ich sagte: „Ich will heilen.“
Ich weiß, man sieht es mir nicht an, aber ich trage seit dem letzten Jahr eine Wunde in mir. Ich fühle mich wie ein verletztes Tier, das sich durch den Wald schleppt. Der sonst so vertraute Wald hat sich verdunkelt und knackt und heult bedrohlich. Und das alles, weil unter meinem Fell versteckt eine Wunde klafft. Ich will nicht, dass aus der Wunde eine hässliche Narbe aus Groll und Scham wird, die bei der nächsten Verletzung aufreißt, sodass ich vor Schmerzen fauche und alle wegjage, die in meiner Nähe sind. Ich will auch nicht, dass das Gewebe hart und taub wird, sodass ich mich selber nicht mehr spüre. Ich will die Wunde lecken, will Schneeflocken und zarte Sonnenstrahlen darauf fallen lassen. Ich will sie hüten, bis sie sich von innen heraus mit den verstreichenden Tagen wieder verschließt. Was bleibt, ist eine blasse Linie, eine Erinnerungsnotiz, gezeichnet vom Leben: Die Zeit fügt alles wieder zusammen, was zerbrochen ist.
© Pia Wagner 2023-08-19