Vierzigster Tag, später

Pia Wagner

von Pia Wagner

Story

Meine Füße laufen voraus, schnell und entschlossen, sodass dem Rest von mir keine andere Wahl bleibt, als zu folgen. Nur wenn ein besonders spitzer Stein sich in ihre Sohlen bohrt, bleiben sie kurz stehen. Ich fröstle, aber ich spüre auch die Wärme seines Körpers. Ungefähr eine Armlänge von mir entfernt. Die Geräusche von draußen, das Vogelzwitschern und das Rauschen des Flusses, werden leiser, je weiter ich in den Tunnel hineinlaufe. Seine Schritte knirschen neben mir. Meine eigenen sind kaum zu hören. Dafür höre ich das Klopfen meines Herzens und das Rauschen des Blutes in meinen Ohren. Plötzlich wird es stockdunkel. Das flackernde Licht hinter meinen Lidern erlischt. „Die Lampen sind ausgegangen.“ Seine Stimme ist ruhig und klingt ganz nah. Ich merke, dass ich die Lippen aufeinander presse. Ich löse sie und atme tief ein. Kühle, feuchte Luft strömt durch meinen Mund, bis tief in meinen Bauch. Ich laufe weiter. Meine Bauchdecke beginnt wieder zu beben, wie damals in der Kunsttherapie. Es ist das gleiche Gefühl: Als würde ich rückwärts in einen Ozean laufen. Jetzt gibt es kein Zurück mehr.

„Okay?“, fragt er. Ich nicke. Die Wärme seines Körpers. Die Wärme meines eigenen Körpers. Das Klopfen meines Herzens. Mein Atem. Die Kraft in meinen Füßen und Beinen. Meine Haut, die jeden Luftzug und jeden winzigen Stein wahrnimmt, als könnte sie an Stelle meiner Augen für mich sehen. Weich. Verletzlich. Lebendig. Ich werde von einer Welle des Mitgefühls geflutet. Ungeweinte Tränen lösen sich in mir, wie aus verkrusteten Salzseen. Dieses Mal weine ich nur innerlich.

Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Keine Ahnung, ob ich seit einer Minute oder seit Stunden durch diesen Tunnel laufe. Aber ich weiß, irgendwann wird er ein Ende haben. „Wir sind gleich draußen.“

Ich spüre zuerst die Sonne auf meinen Augenlidern. Dann wird es hell, sehr hell. Und warm. Der Drang die Augen zu öffnen wird überwältigend stark. Als Erstes blinzeln mir die Sonnenstrahlen entgegen, die durch die Blätter der Bäume fallen. Dann sein Gesicht. Ich sehe alles ein wenig verschwommen, weil meine Augen sich erst noch an das Licht gewöhnen. Meine Beine, die so entschlossen durch die Dunkelheit gewandert sind, werden plötzlich weich.

Ich habe das Gefühl, dass wir uns gerade sehr viel näher gekommen sind, als ich in den letzten Monaten einen Menschen an mein Herz gelassen habe – trotz, oder gerade wegen der Armlänge Abstand zwischen uns. Mein Herz atmet erleichtert auf: Ich kann noch vertrauen.

„Danke“, sage ich. Und dann noch einmal: „Danke.“ Etwas Anderes fällt mir nicht ein.




© Pia Wagner 2023-08-19

Genres
Romane & Erzählungen