Vipassana in Chiba, Tag 4

Clarissa_Smiles

von Clarissa_Smiles

Story

Nachdem wir uns drei Tage lang intensiv auf unsere Nasenfläche und den Fleck darunter konzentriert hatten, bekamen wir eine Initiation, die darin bestand, dass wir nun auf unsere ganzkörperlichen Wahrnehmung achten sollen. Danke, auch darauf konnte ich verzichten. Meine innere Kündigung war vollzogen.

Trotzdem durchhalten um jeden Preis, nur um mich nicht zu blamieren? Ich begann mich wie das hässliche Entlein im Märchen zu fühlen. Alle schienen so eifrig mit ihrer Erleuchtung beschäftigt, was kümmerte da ein Mensch, der nicht in dieses Schema passte?

Bis zum Vormittag des vierten Tages verkraftete ich die schweren Wochen des Abschieds von meiner Mutter ganz gut. Das Begräbnis lag gerade einmal vier Wochen zurück. Alle Last war in den letzten Monaten auf mir allein gelegen. Doch nun, in meinem trostlosen Zustand, wurden die Bilder vom Leid und vom Verfall mächtig. Viel Unverarbeitetes wurde hochgespült.

Normalerweise hätte man sich zurückgezogen, um mit seinen Gefühlen wieder ins Reine zu kommen. Wie absurd! Ich lebte ja gerade zurückgezogen. Doch statt dass innerer Frieden mitschwang, fühlte ich mich von den ständigen kontrollierenden Blicken der spirituellen Saalaufseherin und der sogenannten Managerin gestresst und war gezwungen, im Saal zu bleiben, voll Traurigkeit und Wut.

Da saß ich also. Stille Tränen rannen nur so. Nicht Tränen der Heilung, sondern schlichte Tränen der Verlorenheit. Ich verbrauchte unzählige Taschentücher, im Wissen, dass es für Japaner ganz schrecklich ist, wenn man ein Taschentuch öffentlich benutzt. Eine Japanerin tupft höchstens mit einem speziellen Stofftuch an ihre Nase, aber zum Naseputzen verlässt man den Raum. Um nicht zu stören, musste ich mir die Gesichtsmaske aufsetzen. Obwohl eh niemand gucken durfte.

Körper und Seele hatten genug. Auf die Fläche der viereckigen Sitzmatte gebannt zu sein, war nun unerträglich. Es gab nur einen einzigen Ausweg. Ein Gespräch. Nach der abendlichen Meditations konnte man nach vorne gehen und mit der Saalaufsicht sprechen. Man konnte sich auf einer Anschlagtafel zu einem Vieraugengespräch anmelden. Ausnahmen von der Schweigepflicht.

Vor Beginn hatte ich die Traueranzeige vorgezeigt und erklärt, dass ich wegen des Todesfalls in meiner Familie nicht in der besten Verfassung für den Kurs sei, wollte es versuchen. Aber nein. Eine Tristesse inmitten von Tristesse, ein nicht verarbeiteter Schock, gefolgt von neuen deprimierenden Erlebnissen. Zu viel! Meine psychologische Vorbildung sagte mir, das ist gar nicht gut. Was du gerade erlebst, ist erneut traumatisierend. Alles, wonach du jetzt zu trachten hast, ist raschest wieder in einen guten Zustand zu kommen.

Ach, der gute Zustand! Sobald mein Entschluss feststand, aus diesem Kurs auszusteigen, ging es mir deutlich besser. Mit viel Respektsbezeugung kroch ich zur Saalaufseherin. Sie nickte huldvoll, Am nächsten Morgen könne alles für meine Entlassung arrangiert werden.

© Clarissa_Smiles 2021-03-02

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