Als ich es schon gewohnt bin, mich in meinem Dachreich aufzuhalten und meine Pflanzen zu gießen, nehme ich viel wahr, was um mich her in Wohnungen und auf Balkonen der Nachbarhäuser vorgeht. Ich habe Holzpaletten und flache Gerüste ausgelegt, auf denen Erdwannen und Terrakottatöpfe stehen mit allem möglichen Gemüse, aber auch blühenden Kräutern und Sträuchern. Sehr hohe Himbeerstauden säumen die kleine Trennmauer, damit ich nicht nach unten in den winzigen Hof vom Haus gegenüber abstürze. Insekten freuen sich über diese Ansammlung. Bienen, Käfer, aber auch eine Wespenspinne entdecke ich.
Mein Ausguck geht rundum wie aus einem Adlerhorst. In dem ärmlichen Haus mit dem kleinen Innenhof lebt unter einer taubenfütternden älteren Frau eine Familie mit mehreren Kindern in einer winzigen Wohnung von der Größe, die darüber nur von einer Person bewohnt wird.
Mitsamt meinen Katzen, die auch dieses Dach lieben und zwischen den Pflanzenkübeln im Schatten lagern, halte ich mich häufig auf diesem Terrain auf. Die Tiere benützen eine kleine Leiter, die neben der Weinpflanze befestigt ist und hinunter auf eine gegenüberliegende Garagenanlage reicht, um dann über ein paar Stufen in die umliegenden Gärten zu kommen. Ein Paradies für sie!
Auf dem Kleinbalkon gegenüber sehe ich mehrmals eine ungewöhnlich dicke Frau. Sie ist gleichmäßig rund und redet sehr laut in einer Sprache, die ich nicht gleich ausmachen kann. Klingt slawisch. Wenn sie spricht, ob am Telefon oder mit den Menschen hinter ihr in der Wohnung, wirkt das für meine Ohren immer bedrohlich. Sie steht meistens allein rauchend auf dem winzigen Balkon, weil kaum jemand anderer Platz neben ihr hat. Wenn es sehr laut wird, kommt die alte Frau oben heraus und sieht besorgt nach unten. Ich horche dann ebenso besorgt, wir sehen einander vielsagend an und hegen schweigend ein Einverständnis.
Die immerzu laut redende Frau geht gerade mit dem vierten Kind schwanger. Die Schwangerschaft verbirgt sich regelrecht in ihrem Leib. Manchmal sitzt im anderen Eck des Balkons ein schwarzer, großer, kräftiger Mann. Beide sind mittleren Alters und reden Englisch miteinander. „Matilda“, höre ich die Mutter rufen, einen Befehl gebend. Matilda ist die achtjährige Tochter und so dünn, das arme Kind, wie ihre Mutter dick ist. Der sechsjährige Sohn ist der einzig fröhlich wirkende, da er in seiner eigenen Welt lebt, wie ich im Lauf der Zeit lerne. Er verkleidet sich mit Frauenkleidern, singt und tanzt. Auch auf der Straße, wenn die Mutter mit ihren Kindern einkaufen geht, sie lässt ihn gewähren. Ich sehe sie manchmal. Diese beiden Kinder sind mit ihrer Mutter aus Polen gekommen, wie ich erfahre. Der beinahe Zweijährige im Kinderwagen stammt vom jetzigen Partner dem Aussehen nach.
Eines Tages sehe ich die Mutter mit einem Neugeborenen heraustreten. Sie hält das Kind liebevoll und ich rufe eine Gratulation hinüber. Es ist ein Mädchen, wie ich erfahre, und heißt im Nigerianischen „Rosenrot“.
© Barbara Riccabona 2021-05-13