von Silvia Peiker
Ich zählte 19 Lenze, als ich die dreißigjährige Evamaria kennenlernte. Meine neue, quirlige Kollegin erschien mir wie ein Urgestein in der schummrigen, verstaubten Kanzlei. Evamarias Körpergröße passte auch gar nicht zu ihrem immensen Wissen, dass sie sich im Laufe ihrer vielen Arbeitsjahre hart erarbeitet hatte. Mit ihren knapp ein Meter fünfzig erreichte sie gerade mal die Klinke des hohen, schweren Eingangstores des Innungshauses, das seit dem 17. Jahrhundert die Lebensgeschichten seiner einstigen und gegenwärtigen Bewohner bewahrte.
Sah man Evamarias Silhouette von hinten, konnte man sie leicht mit einer der angehenden Gesellinnen verwechseln, die im Wonnemonat Mai, im Juni sowie im September mit heftig klopfendem Herzen zur Lehrabschlussprüfung antraten. Ihre gute Laune war stets ansteckend und es gelang ihr immer wieder mühelos, gepaart mit einem schelmischen Augenzwinkern und ihrer sympathischen Aura, mit gänzlich Unbekannten Gedanken über Gott und die Welt auszutauschen.
Als bekennender Koffeinjunkie sorgte sie stets für kuriose Zwischenfälle. So manche blütenweiße Bluse verunzierten braune Flecken und auch ihre Schreibmaschine machte Bekanntschaft mit Evamarias Stimulanz. Als der Mechaniker die Maschine auseinandernahm, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen, als er mit der Pinzette zwischen den Typen Reste von Keksstücken herausfischte. Ein Wunder, dass die IBM nicht schon früher den Geist aufgegeben hatte.
Ihre panische Furcht vor dem Zahnarzt gipfelte in immer wiederkehrenden Zahnschmerzen, die sie mit einem Stamperl picksüßen Wermut, den sie in der kleinen Küche versteckt hatte, erfolgreich betäubte. Die drei obligatorischen, großen Tassen Kaffee, die täglich aus besten Bohnen der Kaffeekonditorei Aida aufgebrüht wurden, verursachten ihr häufig Magenschmerzen. Dagegen half wieder ein Fläschchen Underberg; den bunkerte sie in ihrer Schreibtischlade.
Die legendäre Anekdote von der jährlichen Überprüfung der Kassageschäfte durch den Hauptbuchhalter, der offensichtlich leicht beschwipst und schwer verliebt auf Evamarias Schoß Platz genommen hatte, bleibt ebenfalls unvergesslich.
Und Evamarias kreative Ader, sei es nun fantasievolle Trockenblumengestecke oder ein köstliches Rezept für einen deftigen Bauernschmaus zu zaubern, gipfelte im ersten Stockerlplatz bei einem Kochwettbewerb. Eine weitere Passion dieses Tausendsassas war das Fabulieren von wunderschönen Gedichten und Kurzgeschichten. Obwohl der ehemalige Herausgeber der Kronen Zeitung ihr Onkel war, hat sie diese verwandtschaftliche Beziehung nie genützt, um als Autorin erfolgreich durchzustarten.
Liebe Evamaria, heute, an deinem Geburtstag – wie hab ich dich beneidet, du hattest ja stets am Tag der Arbeit frei – denke ich mit Wehmut an unsere turbulente, gemeinsame Zeit. Ruhe in Frieden, du bist für immer in meinem Herzen und in meiner Erinnerung.
© Silvia Peiker 2021-05-01