Vive la Mannschaft

Boris Brandt

von Boris Brandt

Story

Deutschland-Ukraine. Auftaktspiel. Fernsehraum. Riecht nach Verwesung, Männerschweiß und schon mal geatmetem Zigarettenrauch. Das dicke Goldkettchen hustet wie ein Berg bei einer Lawine und krächzt dabei wie eine Ziege. Der Rollifahrer wuchtet sich selbst in den Sessel. Vorher hat der Nazi mit der LSD-Psychose den Sessel mit einem Lächeln im Gesicht Richtung Rollstuhl geschoben. Bei der Hymne summt nur der dicke Goldene mit. Der Nazi singt nicht mit, wäre eh nur die erste Strophe gewesen. Also keine Schlägerei. Beim ersten Tor balle ich als einziger die Faust. Die anderen sind vielleicht zu depressiv oder zu ruhig gestellt oder sehen ein anderes Spiel. Oder hassen Fussball und sitzen hier nur so. Weil sie den Duft mögen oder weil sie nicht allein sein wollen. Auf dem Tisch, außen Laminat, innen Spanholz, steht eine Pall Mall-Stopftabakdose. Kein Statement wie selbst drehen, sondern pure Resignation. Der Nazi teilt seine Schoki mit den Ukrainern. Bietet ihnen alles an, lächelt dabei grotesk und liest heute zum Einschlafen die Nationalzeitung, die ihm sein Vater mitgebracht hat. Schaut nochmal kurz auf sein Handy mit dem Hakenkreuzbildschirmschoner und träumt von der nationalen Revolution. Einer kommt aus Versehen auf den Lichtschalter. Die Goldkette kriegt sich gar nicht mehr ein und lässt den Lachanfall zum Hustenanfall werden. Lacht lauthals, hustet dabei. Der ganze Berg bewegt sich. Auch die großen Brandnarben, die sich von der Hälfte des Bizeps bis in den Unterarm ziehen.

Jogi Löw steht am rechten Rand der Coachingzone. Sehr deutsch, sehr korrekt. Legal muss es sein. Ordnung muss es haben. Die Feldspieler tragen alle weiß-schwarz-schwarz. Ein Überbleibsel aus der Kaiserzeit. Als nicht nur die Torhüter parierten und nicht nur die Stürmer angriffen. Manuel Neuer trägt schwarz-weiß-weiß. Ist noch mehr Teil „der Mannschaft“. Nicht signalgelb. Nicht Tim Wiese-Pink. Kein Oranje-Orange. Libero der Nation mit Handschuhen in umgedrehter Farbenreihenfolge. Falsche 1. Verkappte 5. Die Beckenbauerisierung des Torwartspiels. Passt und dribbelt in Lille. Köpft den Ball ins Aus, gibt dem Jerome einen mit. Also einen Klaps auf die vier Buchstaben. Der normalparabelt den Ball ins offensive Halbfeld. Halluziniert sich den baumlangen Gomez ins Spiel. Da steht aber nur Schlumpf Götze, der mit seinem Kopf-Körperüberhang an den Knöcheln der ukrainischen Riesen abprallt. Würde gut hierher passen, der Boateng mit seiner Gomez-Halluzination. Wäre ein super Bettnachbar. Würde Nüsse knacken und Brillen spazieren tragen. Und von früher(Hertha) erzählen. Die Ukrainer lachen sich schlapp, liegen fast auf dem Boden. Warum, ist egal. Curwa, Pytschko, 0:1. Drei Minuten noch. Wenn kein Wunder mehr passiert, passiert kein Wunder mehr. Dann doch noch eins: Butterflanke von Özil, Schweini macht das 2:0 und schmiert die Nutella drauf. Der Schiri klappt die Stulle zu. Pfeift ab.

Photo by Vienna Reyes on Unsplash

© Boris Brandt 2020-11-07

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