Vogelkinder

Emma Breuninger

von Emma Breuninger

Story
2007 – 2012

“Mutti, komm schnell. Schau mal, der große Vogel!“ Mein Sohn ist ganz aufgeregt. Tatsächlich, auf dem Geländer unseres Küchenbalkons sitzt ein großer, wunderschöner Turmfalke. Er zeigt uns den Rücken und schaut in die verschneite Gegend. Lange sitzt er dort. Wir wagen nicht, uns hinter der Schreibe zu bewegen. Nach etwa 15 Minuten fliegt er davon.

Fünf Jahre später im Frühling beobachte ich eine Blaumeise, die etwas im Schnabel hält und sich offensichtlich auf dem Geländer des Küchenbalkons ausruht, ehe sie in dem Loch zwischen Hauswand und Außenverschalung verschwindet. Nein, es sind zwei Blaumeisen, offensichtlich ein Pärchen, das gerade in dem Hohlraum dort ein Nest baut. Einige Zeit später höre ich aus dieser „Höhle“ ein zaghaftes Piepsen. Die Jungen sind geschlüpft. Und nun kann ich täglich sehen, wie die Eltern Futter anschleppen. Sie ruhen sich immer erst ein bisschen auf dem Geländer aus, ehe sie in die Höhle fliegen.

Irgendwann höre ich kein Piepsen mehr, nichts. Stille in der Höhle. Die Kleinen sind flügge und mit den Eltern davongeflogen. Halt, nein – was ist das? Ein Junges auf dem Boden unseres Balkons, einsam und verlassen. Traurig piepst es.

Armes Ding. Ist wohl noch zu schwach und konnte mit den anderen nicht davonfliegen. Was tun? Werden die Eltern kommen und ihm Futter bringen? Wir wollen es nicht anfassen, denn sonst kümmern sich die Eltern gar nicht mehr um das Kleine.

Doch nachts wird es noch empfindlich kalt. Es wird erfrieren. Wir holen ein altes Handtuch und formen eine Art Unterschlupf in einer Ecke an der Wand. Da kann es sich verkriechen und etwas aufwärmen.

Am nächsten Morgen sehen wir das Kleine nicht mehr? Ist es durch den breiten Spalt zwischen Geländer und Wand hinausgefallen, abgestürzt aus der 8. Etage? Mein Sohn ist verzweifelt. Ich mache mir auch Sorgen. Doch da taucht es auf. Hatte sich gut im Handtuch versteckt.

Wir hoffen, dass die Eltern irgendwann zurückkommen und Nahrung bringen. Wie sollte es sonst an Kraft gewinnen?

Und siehe da, am späten Vormittag erscheint Papa Blaumeise (er ist größer als Mama Blaumeise) und setzt sich auf das Geländer. Papa Blaumeise hat keine Nahrung dabei. Er spricht mit dem Kleinen, es hört sich fast so an, als ob er mit dem Kleinen schimpft. Und das Kleine piepst zaghaft zurück. Da wird Papa Blaumeise lauter. Ich frage mich, warum er keine Nahrung mitgebracht hat. Doch nach langem Gepiepse zwischen Vater und Kind fliegen plötzlich beide davon.

Und nun verstehe ich: Papa Blaumeise hat nicht geschimpft, sondern seinem Kleinen Mut gemacht, nicht so zaghaft zu sein und sich zuzutrauen, endlich selbst zu fliegen – so wie es den Geschwistern schon am Tag zuvor gelungen ist. Unser Kleines hat eben nur einen Tag länger gebraucht.

© Emma Breuninger 2021-04-16