Voll im Verzug im Zug

JanGroenhain

von JanGroenhain

Story

Hamburg Hauptbahnhof, 7 Uhr morgens. Meine flotten Schritte führen mich zum Bahnsteig 7. Der Blick auf die Anzeigetafel bestätigt mir: In 15 Minuten wird mein Zug kommen. Mein Puls geht auf Entspannungsmodus. Am Vortag hatte ich beruflich in der Stadt zu tun gehabt, und heute Morgen soll es weiter gehen nach Hannover, zu einer Messe. Ob der frühen Stunde hatte ich ein Hotelzimmer in Bahnhofsnähe reserviert und mein City-Express Sparpreis-Ticket mit Sitzplatzreservierung vorab gekauft.

Mein neuerlicher Blick auf die Anzeigetafel offeriert mir eine leichte Planänderung. „Zug kommt etwa 15 Minuten später“ lässt sie mich wissen. „OK, kein Problem“, sag ich ihr, das kann mich nicht beunruhigen. Ich schlendere auf und ab und kaue an meinem Brötchen, dem Rest des übereilten Frühstücks.

Kurz darauf taucht im Augenwinkel neues auf. „Zug kommt etwa 30 Minuten später“. Am mittlerweile gut gefüllten Bahnsteig erkenne ich mürrische Blicke. Auf der zentralen Übersichtstafel sehe ich, dass etwa die Hälfte der Züge verspätet sind oder ausfallen. Was ist da los heute? Ist das hier Standard? Ich habe einen Termin in Hannover. Das wird schön langsam knapp. Mein Puls schwillt an.

Nur wenig später ein neues Update: „Zug kommt etwa 60 Minuten später“. Jetzt reicht’s! Das kann doch nicht sein! Eiligen Schrittes suche ich das nahe DB-Reisezentrum auf, um mir die hanseatische Salamitaktik erläutern zu lassen. Ich finde einen großen Raum mit vielen geschlossenen Schaltern, nur zwei sind bemannt. Etwa zehn Hilfesuchende bilden vor mir eine Schlange. Als ich endlich dran bin, ersuche ich um Aufklärung. Der Hinterglas-Herr schaut in seinen Bildschirm, dann über seine Brille hinweg zu mir. „Ich glaube, dieser Zug kommt heute nicht mehr. Ist auf offener Strecke liegen geblieben. Es gibt Stau“. Meinen offenen Mund erkennend ergänzt er: „Sie können einen anderen nehmen. Gerade fährt einer ab. Oder Sie nehmen den ICE in 10 Minuten“.

Zurück am schon übervollen Bahnsteig. ICE fährt ein. Im Zug stehen schon viele Leute. Aber nicht um auszusteigen, sondern um weiterzufahren, wie sich zeigt. Dutzende Neue drängen rein, die Gänge überfüllen sich, ich ergattere einen Platz im Foyer, eingekeilt neben der WC-Tür und einem riesigen Koffer. Die Freude über die Kofferstütze wird geschmälert durch WC-Akrobaten, die ins Örtchen rein- oder rausdrängen, jedes Mal eine Aromawolke in Umlauf bringend. Zwischendurch rufe ich in bei meinem Termin an und teile mit, dass ich mich in vollem Zuge verspäten werde.

Schließlich quetscht sich ein Bahnboy mit seinem Imbisstrolley mühsam durch den Zug. „Was zu trinken bitte?“ Freundlich offeriert er sein Angebot, während Reisende mürrisch stolpernd akrobatische Übungen vollführen, um ihm den Weg freizumachen. Der zieht sein Service knallhart durch, immerhin.

Abgehetzt und zerknittert treffe ich später bei meinem Termin ein. „Sie wirken etwas gerädert, wie war die Anreise?“ „Nur dem Image der Bahn entsprechend.“

© JanGroenhain 2022-03-30

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