von MISERANDVS
Anfang der 2000er ist Chatten in. Und auch ich treib mich in einem Chat herum, abends, wenn Zeit ist. Wir sind eine lustige Truppe, haben richtig Spaß beim Plaudern. Gelegentlich geht man auch in einen zweier Chat, um sich fernab der Gaudi-Partie zu unterhalten. Und wie es so kommt, … es entspinnt sich ein Schäkern. Allen ist klar: Das ist das Internet. Nichts davon ist real, nichts davon hat Substanz. Und wenn man auf das X klickt, ist die Sache bis morgen vorbei… Gelegentlich tauscht man Telefonnummer aus, weil man sich sympathisch findet, plaudert ein, zwei Mal und stellt dann erst fest: Mehr als eine Chatfreundschaft ist es nicht. So denkt man sich das. Vernunftbegabterweise. Doch es gibt auch das andere Ende der Leitung.
Als mein Handy im Dienst klingelt und ich abhebe, brüllt jemand ins Rohr: “Du schwule Drecksau du! Verreck!” Ich lege erschrocken auf. Kurz darauf klingelt es erneut. “Schwanzlutscher, grausiger! Man sollte dich abknallen wie einen Hund.” Ich lege wieder auf. Was soll das? Immer wieder klingelt es. Weil ich nicht mehr abhebe, füllt sich meine Box langsam mit hasserfüllten homophoben Nachrichten. Wie kommt das alles nur? Als ich heimkomme, blinkt mein Anrufbeantworter. 27 neue Nachrichten. Ich drücke den Knopf: “Das hast du nun davon! Du Schwein! Ich werd dir das Leben zur Hölle machen!” Nächste Nachricht: “Entschuldige. Ich weiß nicht, … es tut mir so leid. Aber ich liebe dich!” Nächste Nachricht: “Du Sau du elende! Ich hasse dich!” Nächste: “Bitte, sei mir nicht böse. Ich lieb dich so. Ich bin so verzweifelt. Wieso liebst du mich nicht?”
Ich versteh die Welt nicht mehr. Abends erklärt mir eine Freundin, dass N., eine aus dem Chat, sich wohl in mich verliebt hätte. Sie labert alle voll, sie sollen mich dazu bringen, sie auch zu lieben, redet von Heirat. Außerdem habe sie meine Nummer auf einer Schwulen-Seite gepostet und widerliche Vorlieben dazugeschrieben.
Tag um Tag komm ich heim, und mein AB ist mit Nachrichten hysterisch vollgeschrien oder vollgeheult. Als es wieder klingelt, heb ich ab. Das muss man doch vernünftig lösen können. Ich hab ihr nie gesagt, dass ich etwas für sie empfinden würde. Lässt sich bestimmt klären. Vernünftig.
N. heult lange vor Glück, weil ich abhebe, dann aus Verzweiflung, weil ich noch einmal sage, dass sie sich vertan hat, und ich sie nicht liebe. Als sie mir wüst droht und nur noch schreit, lege ich auf. Und mir wird zu spät klar: Ich hab es mit einer Verrückten zu tun. Gegen 23 Uhr klingelt es an der Tür. Ein fremder Mann steht da, hält mir eine Papprolle her. “Von N.”, sagt er und erklärt, er sei ihr Ex, und sie habe ihn aus Braunau damit nach Wien geschickt. Ich öffne die Rolle. Drinnen ist eine Akt-Kohlezeichnung von N. Der Mann erklärt, er habe sie zeichnen müssen – für mich. Dann geht er – zum Glück.
Ich überlege lange, was ich tun soll. Sie wird nicht aufhören. Das nimmt kein gutes Ende! Manche Menschen wollen nicht verstehen, dass man sie nicht in seinem Leben haben will…
© MISERANDVS 2021-08-22