Vom Arzt zum Psycho-Guru – der schiefe Weg

Willi_Schewski

von Willi_Schewski

Story
Flensburg 1991

Ausgestattet mit den vermeintlich revolutionären Thesen von Alice Miller machte ich mich auf die Suche nach Psychotherapeuten und Ärzten, die diese neuen Erkenntnisse in ihre Arbeit integriert hatten. Naiv wie ich war, lebte ich in der Hoffnung, dass die Ärzteschaft die neuen Erkenntnisse bereits umgesetzt hätte. Zuerst benötigte ich einen neuen Hausarzt, denn mein alter war ein wahrer Meister der Somatik – Betablocker und nichts weiter.

Mit frischem Mut wandte ich mich an meine Krankenkasse und formulierte meine Erwartungen: ein Hausarzt, der sich sowohl im somatischen Bereich als auch in der Psychosomatik auskannte. Schließlich wurde ich an Dr. H. verwiesen, einen praktischen Arzt und Psychotherapeuten. Zunächst wirkte er sympathisch und kompetent, doch bald trübte sich das Bild.

Mein anfänglicher Enthusiasmus verwandelte sich in ernüchternde Enttäuschung. Nach einer heftigen Angstattacke verschrieb er mir brav die bekannten Betablocker und erklärte mir, ich könnte mit meiner Neurose “leben”. An einem anderen Tag prophezeite er mir, dass ich die Medikamente ein Leben lang einnehmen müsste. Wie ein Hammer traf mich diese Einschätzung! Am Hafen schlendernd, murmelte ich zu mir selbst: „NEIN, niemals werde ich ein Leben lang Pillen schlucken! NIEMALS!“

Hätte ich auf die Worte meines Hausarztes gehört, wäre ich heute ein Schatten meiner selbst, verdorrt in meiner Hütte und umgeben von einer Pillenlandschaft. Doch ich gab nicht auf! Ich las unermüdlich die Werke von Alice Miller und Peter Lauster, tauchte in die Selbstanalyse ein und schrieb Aufsätze mit Titeln wie „Bilanz und Analyse meines Lebens“ und „Meine Psychoanalyse A: 14 Abwehrmechanismen“.

Ein Auszug:
„1. Identifizierung mit Autoritäten (A.)
In meinem Leben habe ich mich mit vielen A. identifiziert, mein Bruder war eine der einflussreichsten. Doch ich stellte fest, dass seine Lebensphilosophie nicht meiner entsprach. Die Eigenschaften, die ich mir aneignete, legte ich bald wieder ab. Letztlich bedeutete I. mit A. für mich Fremdbestimmung statt Selbstentfaltung.“

An anderer Stelle klagte ich:
„Gestern las ich, dass man seiner Angst am besten begegnet, indem man man selbst ist. Ein schöner Gedanke, doch wer ist dieses ‚Ich Selbst‘? Ich weiĂź nicht einmal, wer ich bin! Wie sollte ich meine GefĂĽhle entwickeln können, wenn sie permanent unterdrĂĽckt wurden? Meine Eltern, arme gefĂĽhlskalte Seelen, haben einen groĂźen Anteil an meinem Dilemma. Sie wussten nicht einmal, dass sie mir das antaten.“

Als ich mich informierter und sicherer fühlte, benötigte ich einen Psychotherapeuten, idealerweise einen, der Alice Millers Thesen in seine Praxis integriert hatte. Ich war überzeugt, dass Dr. H. mir den richtigen Therapeuten empfehlen würde. Gesagt, getan: Er verwies mich an seinen Kollegen, einen Psycho-Guru, wie sich herausstellen sollte.

© Willi_Schewski 2024-09-29

Genres
Biografien
Stimmung
Abenteuerlich, Dunkel, Komisch, Mysteriös, Reflektierend
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