Wie sie dieses Kleid liebte! Sie trug es immer wieder, jeden Tag. Das fantastische Gelb des Stoffes leuchtete besonders im Frühling einladend und zog immer wieder Bewunderer an. Die ließen sich dann gerne in ihrer Nähe nieder, inspiriert von diesem Frühlingsgelb und fühlten sich einfach wohl.
Wie gesagt, auch sie mochte die Farbe Gelb. Andererseits war sie so eigen, dass sie das gelbe Kleid nicht immer der Witterung aussetzen wollte, und so kramte sie aus alten Zeiten einen grünen Umhang hervor, den sie zumindest zeitweise überstreifte.
Damit muss sie einen Modetrend ausgelöst haben. Immer wieder sah sie ähnliche Kleidungsstücke bei Groß und Klein – der Trend schien angesagt zu sein. Nun, damit konnte sie leben. Auch wenn es ihr als Frau manchmal mächtig gegen den Strich ging, dass andere das gleiche Kleid trugen: Aber sie reagierte nie über, wurde nicht nervös, nahm es einfach hin und gönnte es auch.
Auch wollte sie ihr Kleid nicht immer zur Schau stellen. Auch dafür schien ihr der grüne Umhang geeignet. Diese verrückte Kombination aus Grün und Gelb machte sie noch begehrenswerter – und lud auch zum Kopieren ein. Sie arbeitete vorwiegend abends. Wenn keine Bewunderer in der Nähe waren, dann faltete sie das gelbe Kleid zusammen – langsam und bedächtig, Stoffstreifen für Stoffstreifen, um es am nächsten Morgen wieder auszubreiten.
Aber wie das manchmal so ist: War es der Wind, ein Spanner oder ein verschmähter Liebhaber? Wie oft musste sie trauern, wenn das zauberhafte Kleid am Morgen plötzlich verschwunden war. Wie gerupft stand sie da und schämte sich.
Für solche Fälle hatte sie sich irgendwann mal einen „Plan B“ zurechtgelegt. Für den Fall, dass ihr Kleid wieder einmal verschwinden sollte, trug sie nun wenigstens noch ein Unterkleid – nicht in Gelb, sondern aus vielen kleinen weißen Federn und Spitzen, Fähnchen und zarten Greifärmchen. Es war so dicht, dass man ihre nackte Haut nicht einmal erahnen, geschweige denn sehen konnte. Dieses Unterkleid saß wie angewachsen auf ihrer Haut und wirkte dennoch luftig. Es schmeichelte ihrer Figur.
Nun, damit musste sie leben, auch wenn sie ihrem gelben Kleid jedes Mal hinterher trauerte. Denn am nächsten Morgen gab es nicht mehr so viele Bewunderer. Doch immer wieder kam dieselbe treue Seele vorbei, schaute sich alles genau an, begann um sie herumzutanzen, liebkoste sie erst zaghaft, dann immer zärtlicher, bis sie – nach einiger Zeit endlich froh, einen Liebhaber gefunden zu haben – sich bereit erklärte, Spitze für Spitze von ihrem Unterkleid zu lösen.
Und der Liebhaber griff sanft nach jeder Spitze, nahm sie in seine Hand und ließ sie wie kleine Fallschirme über die Wiese fliegen. Sie blieb zurück, wiegte sich im Wind und war stolz, dass ihr Geliebter ihre Spitzen so schön verstreut hatte, obwohl sie nun so entblößt war.
Dann machte sie sich an die Arbeit – ein neues Kleid musste her.
Natürlich in Gelb.
© Heinz-Dieter Brandt 2020-05-05