Vom Kotzen und Lieben

Nina Marie

von Nina Marie

Story

„Ich kann es dir nicht sagen. Ich will ja, aber ich schaffe es nicht.“. Sie sieht mich kurz verzweifelt an, dann schaut sie wieder auf den Deckel der Sprudelflasche in ihrer Hand. Wir sitzen uns auf meinem Bett gegenüber und ich denke daran, wie lange ich auf diesen Moment gewartet habe und wie viel Angst ich vor ihm hatte. Und immer noch habe.

„Kannst du es aufschreiben?“, frage ich vorsichtig. Ich will sie nicht zu sehr bedrängen, aber etwas in mir kann es nicht erwarten, endlich zu erfahren, was „es“ ist. Monatelang haben wir immer nur von „dieser Sache“ geredet, die sie mir nie sagen konnte. Aus Angst, ich würde sie dann hassen oder plötzlich als anderen Menschen wahrnehmen. „Diese Sache“ wegen der sie mir immer wieder erzählte, dass sie sich bald umbringen würde und mich wie erschlagen damit alleine ließ. Sie ist 15 und ich 14. Es ist diese Zeit, in der das Leben entweder unglaublich schrecklich oder wunderschön ist.

Jetzt nickt sie langsam, steht vom Bett auf und setzt sich an meinen Schreibtisch, wo sie sich Zettel und Stift nimmt und los schreibt. Mein Herz klopft schnell und ich ahne die Bedeutung dieses Moments. Seit ich denken kann, ist sie an meiner Seite, zweifellos einer der engsten Menschen in meinem Leben. Und trotzdem haben wir zu diesem Zeitpunkt kaum noch etwas gemeinsam. Tiefe Traurigkeit hat meine Freundin an sich gerissen, während ich mich noch in sicherer Geborgenheit wähne, von der Grausamkeit des Lebens bisher verschont.

Sie streckt mir den Zettel entgegen, auf dem in krakeliger Schrift folgende Sätze stehen:

„Weißt du was ich immer mache, wenn ich so lange auf dem Klo bin? Ich kotze immer, weil ich doch dünn sein muss. Ich esse ganz viel & dann kotze ich. Ich habe Bulimie. Ich mache das seit zwei Jahren.“

Ich habe versagt.

Das ist das erste, das mir durch den Kopf schießt. Ein Gefühl, das sich in meinem Körper, in meinem Herz ausbreitet und tief in mein Innerstes sickert. Ich war die Person, die ihr am nächsten stand, der sie sich am meisten öffnete, der sie vertraute. Ich dachte, ich war die Person, die sie am besten kannte. Plötzlich macht alles Sinn. Es ist wie ein Puzzle, von dem ich nicht wusste, dass die ganze Zeit über noch ein Stück gefehlt hat, doch jetzt wo das letzte Stück da ist, ergibt das Bild endlich Sinn. Zwei Pizzen um vier Uhr nachts, mehrere Tafeln Schokolade, dazu Unmengen an Sprudelwasser. Die ewigen Klogänge, das mehrmalige Abspülen, das ich von meinem Zimmer aus hörte, die unterlaufenen Augen, wenn sie zurückkam. Ich wusste all das, ich wusste wie wichtig ihr ihr Gewicht war, ich wusste von Bulimie, ich wusste von ihren Depressionen und ich kam nicht darauf.

Stundenlang liegen wir uns weinend in den Armen, ratlos und verzweifelt, aber nicht mehr alleine. Bevor wir auseinander gehen, nimmt sie mir das Versprechen ab, es niemanden zu sagen, sie würde sich sonst das Leben nehmen.

***

Fast 10 Jahre später:

Heute ist ihr Sohn zur Welt gekommen.

© Nina Marie 2019-11-19