In meinem Elternhaus war Lesen ein ungeschriebenes Gesetz. Mein Vater, der Lehrer, besaß einen Bücherschrank, der voll von Büchern war. Und er las, er las sehr viel. Besonders als er schon in Pension war, ging er immer mit einem Buch ins Bett. In seinem Nachlass habe ich ein Heft gefunden, in dem er alle seine gelesenen Bücher auflistete: Titel, Name des Autors, Seitenanzahl, gelesen von wann bis wann. Besonders gern las er die russischen Dichter wie Tolstoi und Dostojewski, sehr dicke Wälzer wie *Krieg und Frieden*, den mein Vater in wenigen Nächten verschlang. Ich habe nur *Schuld und Sühne* geschafft.
Ich besuchte eine Höhere Schule in Wien-Döbling. Es gab eine Bibliothek. Ich lieh mir Bücher aus für meinen Vater. Da waren sehr umfangreiche Werke dabei. Von nordischen Schriftstellern. 900 Seiten waren keine Seltenheit. Mich schreckte das ab. Aber mein Vater liebte diese Bücher mit ihren ausladenden Schilderungen von Landschaften, schwierigen Familienverhältnissen und tragischen Liebesgeschichten wie *Anna Karenina*. Alle Lektüren, die wir im Deutschunterricht durchnahmen, las er auch: Thomas Mann, Franz Kafka, Max Frisch, Friedrich Dürrenmatt, Georg Büchner, Gerhart Hauptmann, um nur einige zu nennen. Nicht zu vergessen natürlich die Klassiker wie Schiller, Goethe und Grillparzer.
Meine Lesebegeisterung hielt sich in Grenzen. Am liebsten las ich in der Volksschule. Gleich nachdem ich lesen konnte, borgte ich mir in der Schulbibliothek ein Buch nach dem anderen aus und genoss meine Leseerlebnisse. Zu Weihnachten bekam ich immer Bücher geschenkt. Ich erinnere mich an *Die Hochreiter Kinder*, von dem es mehrere Bände gab. Auch die vielen Bände von *Der Trotzkopf* verschafften mir schöne Leseerlebnisse.
In der 4. Hauptschulklasse mussten wir ein Lesetagebuch führen. Das Lesen bekam etwas leicht Zwanghaftes. Ich suchte mir eher schmale Werke aus wie zum Beispiel *Der alte Mann und das Meer* von Hemingway. Später, in der Höheren Schule war Lesen ein fester Bestandteil im Deutschunterricht. Da quälte ich mich schon immer wieder durch eine für mich langweilige Lektüre hindurch.
Trotzdem war meine Liebe zu Büchern ungebrochen.
Als ich dann Germanistik studierte, musste ich lesen, lesen, lesen … Ich entwickelte Konzentrationsstörungen, hatte manchmal das Gefühl, das Gelesene nicht in mich aufnehmen zu können, spürte eine innere Sperre, die mir Angst machte. Ich las trotzdem weiter. Die Pflichtlektüre eher quälend, aber die andere, frei gewählte Lektüre schon mit etwas Begeisterung. Als Studentin war feministische Literatur das absolute Highlight.
Ich machte in Germanistik meinen Abschluss. Eine Leseliste von 200 Werken, aufgeteilt auf alle Epochen der Literaturgeschichte, musste ich erstellen. Ich las nicht alle Werke vollständig, manche nur in Auszügen und Zusammenfassungen, eine Strategie, die sich bewährt hat, denn ich schaffte meinen Abschluss mit gutem Erfolg. Danach las ich mal mehr, mal weniger. Eine absolut lese-freie Zeit hatte ich wohl noch nie.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2025-02-10