Vom Mundgeruch meiner Großmutter

Sonja Schiff

von Sonja Schiff

Story

Manchmal frage ich mich, wie es kommen konnte, dass ich immer noch lebe, mehr noch, dass ich intensiv und inbrünstig lebe, das Leben regelrecht feiere, glücklich bin und erfolgreich, während alle meine Freunde von damals längst nicht mehr unter uns weilen, sondern durchs Nirvana segeln, in der Hölle schmoren oder vielleicht auch im Himmel gelandet sind und friedlich auf einer Wolke sitzen.

Damals, das war so um 1980 und ich mitten in der Pubertät. Ich habe alles ausprobiert, was es auszuprobieren gab. Sex, Drugs and Rock ’n‘ Roll, wie wir unseren Lebensstil schönredeten und glorifizierten. Live hard, die young!

Den anderen ist das auch tatsächlich passiert. Sie sind allesamt jung gestorben. Ertrunken im Salzachsee, verreckt an Aids, an einer Überdosis in den florentinischen Uffizien oder an einem Selbstmord in der Psychiatrie, einen Tag nach einem LSD Trip. Nur ich habe irgendwann den Ausgang gefunden aus diesem Wahnsinn. Nur ich bin immer noch da. Nur ich lebe noch.

Aber warum ich? Warum nicht Regina, Murad, Harald, Maria oder Helene?

Ich glaube, es lag an meiner Oma. An ihrer Liebe. Ihrer Wärme. Sie hat bei uns gewohnt als ich Kind war und sich mit mir (oder ich mit ihr?) das Zimmer geteilt. Morgens rief sie mich, sobald ich blinzelte, und lüpfte ein klein wenig ihre Decke, was so viel bedeutete wie: Komm zu mir ins Bett.

Sie duftete nach Schweiß, nach langer Nacht und alter Frau. Ihr morgendlicher Mundgeruch war mehr als übel und wenn ich unter ihre Decke kroch, umwehte mich leichter Urinduft, vor allem wenn sie am Vortag viel gelacht hatte. Trotzdem wartete ich jeden Morgen ungeduldig auf das Zeichen.

Sie hielt mich, eng an sich gedrückt, in ihren Armen und erzählte dabei, mit ihrem seltsamen sudetendeutschen Dialekt, die wunderbarsten Geschichten. Außerdem konnte sie küssen wie keine andere. Warme nasse Küsse. Auf beide Wangen, den Hals, den Bauch, die Nase, beide Ohren, meine Hände. Und, sonntags, wenn wir Zeit hatten erneut einzuschlafen, konnte sie schnarchen wie keine zweite. So richtig. Da bebte der Raum.

Nur wenn sie, nach dem Naschen von Schokolade, in ihr Taschentuch spukte und mir damit Mund oder gar Gesicht abputzte, wehrte ich mich mit angewiderter Miene.

Sie ist der Grund, warum ich noch lebe. Ich weiß es. Und ich wünschte, ich könnte mich bei ihr bedanken, ihr davon erzählen, dass sie mich gerettet hat.

Danke Oma, für Deine Liebe. Du hast mich stark gemacht, hast mir Zuversicht, Mut, und Urvertrauen geschenkt und in mir den Grundstein gelegt dafür, dass ich Jahre später fähig war, stehenzubleiben und abzubiegen in Richtung Zukunft, während Regina, Murad, Harald, Maria und Helene geradeaus weiterliefen. Mitten hinein ins Verderben. In den Tod.

Übrigens: Ich bin jetzt so alt wie du damals. Mein Mundgeruch morgens ist auch von der übelsten Sorte. Und ich kann schnarchen wie Du. Da bebt der Raum.

© Sonja Schiff 2021-02-27

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