Vom Mut, Eigenverantwortung zu übernehmen

Aylin Chaaban

von Aylin Chaaban

Story

Als ich 18 Jahre alt war, habe ich eine der ersten »großen« mutigen Entscheidungen getroffen – und zwar die, mein Studium abzubrechen. Ich habe, kann man sagen, aus Verlegenheit studiert. Nach einigen Monaten wusste ich aber ziemlich genau: alles, nur nicht das hier. Ich begann, für eine Fundraising-Firma zu arbeiten. Meine folgenden Monate bestanden aus der Aufgabe, in Fußgängerzonen zu stehen und Menschen zu werben, die Geld spenden sollen. Eine Arbeit zu verrichten, die vielen Vorurteilen ausgesetzt ist und auf deren »Gequatsche« die meisten Passanten gut und gerne verzichten, kann ein ziemlicher Knochenjob sein. 

Eines Tages standen wir in der Nürnberger Fußgängerzone. Über Stunden wollte einfach niemand spenden, keiner interessierte sich für die Wohltätigkeitsarbeit und ich musste mir die ganze Zeit Sprüche anhören wie »Was soll ich fremde Kinder durchfüttern, ich hab auch noch nicht gefrühstückt!« Irgendwann ging ich zu meinem Teamleiter und beschwerte mich über die Situation. Ich behauptete, dass es mir unmöglich wäre, auch nur eine Person zu finden, die sich engagieren will. Da schaute er mich an und fragte mich: »Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass in den drei Stunden, in denen du hier stehst, alle Arschlöcher Nürnbergs vorbeikommen?« Nun, auch wenn ich nie ein Ass in Wahrscheinlichkeitsrechnung war: Diese Frage war ziemlich leicht zu beantworten. Mein Teamleiter schickte mich ein »10-Minuten-Bier« trinken (innerhalb von 10 Minuten ein Bier »finden«, kaufen, es trinken und wieder zurückkommen), gab mir die Aufgabe mich zu sammeln und dann, sobald wieder am Stand war, direkt loszulegen. Gesagt, getan. 11 Minuten später hatte ich einen Menschen gefunden, der begeistert von der Möglichkeit war, etwas Gutes zu tun und seinen Beitrag zu leisten. Als wir am Abend zusammensaßen, fragte ich meinen Teamleiter, wie genau das passieren konnte. Und er antwortete mir mit einem der klügsten und mutigsten Sätze, die ich jemals gehört habe: 

Die Welt ist ein Bild deiner Selbst.

Weil ich der festen Überzeugung war, dass trotz meiner Bemühungen »der immer nächste Passant« ja ohnehin nicht spenden würde, hat es auch niemand getan. Ich hatte ein Bild von den Menschen in meinem Kopf und habe es mir durch mein eigenes Denken wieder und wieder bestätigt. Man sieht häufig, was man sehen will.

Die Welt ist tatsächlich ein Bild unserer Selbst. Wenn wir glauben, keiner mag uns und alle anderen sind Arschlöcher – dann ist das der Fall. Aber wenn wir mit einem Lächeln durchs Leben gehen, ein positives Denken haben und aufrichtig freundlich zu den Menschen sind, kriegen wir das hundertfach zurück. Sich einzugestehen, dass dem so ist, erfordert eine Menge Mut. Anzuerkennen, dass eben nicht »die anderen« so oder so sind, sondern wir unser Bild und unsere Reaktion steuern müssen, ist ziemlich unangenehm. Den Mut haben, Eigenverantwortung zu übernehmen, ist ein bisschen, wie ein Pflaster abzuziehen: Am Anfang zwickt es und tut einem selbst möglicherweise sogar weh – für die Heilung ist es jedoch unerlässlich. 

© Aylin Chaaban 2023-08-31

Genres
Biografien
Stimmung
Emotional, Hoffnungsvoll, Inspirierend, Reflektierend, Challenging
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