Ich habe mich nicht in diese Welt geholt.
Meine Mutter wollte unbedingt ein Kind. Es sollte der Sinn ihres Lebens sein. Und im Alter wollte sie jemanden haben, der sich um sie kümmert. Als ich nach einer Fehlgeburt und einer Frühgeburt geboren wurde, war meine Mutter schon im 42. Lebensjahr. Es war gar nicht so leicht, mich in diese Welt zu holen. Es brauchte ärztlicher Hilfe, die in Form von einer Hormonbehandlung erfolgte. Vor mir hatte meine Mutter eine Frühgeburt. Alois wurde nur zwei Tage alt. Auf dem Friedhof gab es ein Kindergrab, wo Alois begraben war. Als Kind ging ich oft hin, um die Blumen zu gießen. Ich stellte mir vor, wie schön es wäre, ihn als älteren Bruder zu haben. Ich war ein sehr einsames Kind und träumte davon, mit einem beschützenden älteren Bruder an meiner Seite glücklicher zu sein. Dass ich dann, wenn er überlebt hätte, gar nicht geboren worden wäre, konnte ich als Kind noch nicht begreifen.
Mein Vater wollte eigentlich keine Kinder mehr. Aus erster Ehe hatte er schon zwei Söhne. Er war fünf Jahre im Krieg. Traumatisiert, müde und erschöpft von der Kriegshölle war er zurückgekommen und fand sich in der Realität des alltäglichen Lebens schwer zurecht. In jeder schwierigen Erziehungssituation sagte er zu meiner Mutter: „Siehst du, ich habe dir doch gesagt, dass wir zu alt für Kinder sind.“ Daraus schloss ich, von meinem Vater unerwünscht zu sein.
Er war Volksschullehrer. Vor dem Krieg in Schützen am Gebirge. Nach dem Krieg in Podersdorf am See, wo er meine Mutter kennenlernte und im Juni 1949 heiratete. Es war keine glückliche Ehe. Es gab viel Streit. Und mein Vater gab mir die Schuld an ihren Streitereien. „Siehst du, was du wieder angerichtet hast,“ war ein Standardsatz von ihm, wenn wieder einmal ein Streit zwischen den beiden ausgebrochen war. Ich zog mich weinend zurück und lebte in ständiger Angst vor derartigen Gefühlsausbrüchen.
Dass es mich gibt, habe ich meiner Mutter zu verdanken. Wahrscheinlich hat sie sehr hartnäckig ihren Kinderwunsch an ihn herangetragen. Um seine Ruhe zu haben, hat er wohl mitgespielt bei der Erschaffung (Zeugung) meines Lebens. Kontakt habe ich nie zu ihm gefunden. Physisch war er zwar anwesend, aber psychisch nicht wirklich vorhanden, emotional nicht erreichbar.
Meine Mutter erklärte mich für den Sinn ihres Lebens. Sie klammerte sich an mich und erdrückte mich fast mit ihrer vermeintlichen Liebe. Es war eine Form von Liebe, die einem die Luft zum Atmen nimmt. Sie war verliebt in ein Bild von mir und wollte mich nach dieser Wunschvorstellung zu einer idealen pflegeleichten liebevollen perfekten Traumtochter formen. Die reale lebendige Tochter wurde in ihrem Sosein kaum wahrgenommen. Mein Lebensweg hat sich schwierig gestaltet. Mit vierzehn habe ich eine Erzählung geschrieben: Ein unglückliches Mädchen geht durch eine schneebedeckte Landschaft in eine unbekannte Ferne und irgendwann fällt sie hin, bleibt liegen und wird von Schnee bedeckt ein Teil der Winterlandschaft.
© Ulrike Puckmayr-Pfeifer 2020-08-30