von Jana Puschmann
Meine erste Barbie war „Schreibtisch-Barbie“. Als hätten es meine Eltern vorhergesehen. Oder als wäre von noch höherer Stelle die Bestimmung erfolgt.
Schreibtisch-Barbie war natürlich blond, schlank und hatte strahlend blaue Augen. In diesen Punkten unterschied sie sich nicht von ihren Freundinnen. Sie war dennoch ganz anders. Trug nichts mit Glitzer, nicht einmal ein Kleid. Hatte keine pinke Strähne im Haar oder etwa einen Meerjungfrauenschwanz, den man anlegen konnte. Und natürlich auch kein Pferd.
Schreibtisch-Barbie trug Business Chic: Blazer und Stoffhose zur Aktentasche. Auf ihrer Nase eine Hornbrille. Ihr Arbeitsplatz ein Plastik-Klappstuhl an einem Plastik-Schreibtisch. Woran sie genau arbeitete, stand nicht auf der Plastik-Verpackung. Für mich war das sowieso klar, als ich sie Heilig Abend vorsichtig aus dem Karton löste. Sie war Lehrerin. Sie plante Unterricht, korrigierte Aufsätze und telefonierte mit Eltern. Und deswegen genoss sie niemals, nicht einmal einen einzigen Tag, die Freuden eines Puppenlebens. Ich zog ihr keine hübschen Roben an. Wechselte niemals ihre Schuhe. Kämmte niemals ihr langes Haar. Flicht ihr keinen Zopf. Ließ sie niemals Freundinnen treffen. Oder Ken. Nein! Schreibtisch-Barbie musste bei mir schuften. Vokabeltests, Diktate, Klassenarbeiten. Da blieb keine Zeit für Maniküre und Klatsch und Tratsch beim Coiffeur.
Es ist zum Lachen. Und ein bisschen gruselig, wie viel Ähnlichkeit zu erkennen ist. Ich selbst habe nur wenig Zeit für Haare und Nägel. Laufe meistens mit Undone-Frisur herum, trage gerne Blazer zur Arbeit, habe eine Brille auf der Nase und sitze stundenlang am – okay, das ist ein Unterschied – Holz-Schreibtisch. Natürlich bin ich nicht so dünn und so schön wie Barbie. Aber genauso hart schuften wie sie muss ich auch. Lehrerin sein ist anstrengend. Man korrigiert sich dumm und dämlich. Manchmal, wenn ich abends den Stapel unkorrigierter Hefte sehe – ein Berg, der nicht kleiner werden will -, dann will ich ein bisschen weniger Schreibtisch-Barbie ähneln. Mal die sein, die das schnelle Cabrio fährt, die im roten Funkelkleid auf der Bühne steht, oder Tortenbäcker-Barbie am Cupcake-Stand. Und dann merke ich, dass ich das doch nicht möchte. Lehrerin zu sein, ist meine Bestimmung. Sie war es schon immer. Lange, bevor ich Schreibtisch-Barbie auspackte. Sie war es schon, als ich als Kindergarten-Kind neben meinen großen Geschwistern Hausaufgaben machte. Ohne einen Buchstaben schreiben zu können.
Schreibtisch-Barbie blieb meine einzige Barbie. Nie besaß ich eine andere. Schnell verlor ich das Interesse. Brauchte ich doch keine Third-Person-Protagonistin, um meinen Traumberuf auszuüben. Die Kreidetafel zum nächsten Weihnachtsfest etablierte sich über viele Jahre im Kinderzimmer. Als ich in die Grundschule kam, hatte ich vielleicht schon mehr korrigiert als so manch anderer Lehrer an seinem Schreibtisch und war endlich in meinem Element.
© Jana Puschmann 2022-10-08