Von der Kraft der Geschichten

Uwe Böschemeyer

von Uwe Böschemeyer

Story

Vor langer Zeit erlebte ich eine Nacht, auf die ich in keiner Weise vorbereitet war. Und wenn ich heute darüber nachdenke, so scheint es mir, als ob diese Stunden dazu beigetragen hätten, dass ich heute so denke, wie ich denke: Dass lebensnahe Geschichten wichtiger sind als abstrakte Gedanken, die keine Wurzeln im Leben haben.

Es war später Abend, als ich von einer caritativen Einrichtung angerufen wurde. Ich wurde gebeten, mich in der Innenstadt Hamburgs an einem bestimmten Ort mit einem Mann zu treffen, der dringend Hilfe bräuchte. Wenig begeistert von diesem Ansinnen, fuhr ich mit meinem Auto zu jener Stelle. Da stand er, der große Mann, dessen Namen und Geschichte ich auch nach Jahrzehnten nicht vergessen habe.

Nachdem ich mich kurz vorgestellt hatte, sagte er nur: „Fahren Sie mich dorthin, wohin ich Sie führe.“ Nicht mehr. Außer einigen Hinweisen sprach er kein Wort. Mir wurde während der langen Fahrt etwas unheimlich. Seltsamerweise machte auch ich keinen Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Schließlich gelangten wir zu einem riesigen Platz, in dessen Mitte eine Baubude stand. Dorthin dirigierte er mich. „Wir sind da“, war alles, war er zunächst sagte.

Dann saßen wir im Schein einer kleinen Lampe einander gegenüber. „Darf ich Sie fragen“, begann ich behutsam das Gespräch, „ob ich etwas für Sie tun kann?“ Er schüttelte langsam verneinend den Kopf. Doch nach einiger Zeit begann er zu erzählen – langsam, stockend: Er sei mit seinem Schiff gerade im Hamburger Hafen angekommen und habe seine Frau angerufen. Sie habe nur gesagt, er solle sich nicht mehr bei ihr blicken lassen. Er fuhr fort: „Sie hat sich nie mit meinem Beruf als Seemann abfinden können. Und wenn ich mal zu Hause war, haben wir uns nur gestritten. Ich hätte auch so gern Kinder gehabt … Im Lauf der Jahre wurde es in mir immer dunkler. Nun sitze ich hier in dieser Bude, hab´ keine Zuhause mehr, auch innerlich nicht…“ Er schwieg, sah mich zum ersten Mal an. Ich wusste zunächst nicht, was ich sagen sollte. Dann sahen wir uns lange an, und ich spürte in mir aufsteigende Wärme. Ich vergaß die merkwürdige Umgebung. Ich hatte einen Einfall:

„Ich bin so gern am Hamburger Hafen, studiere die hereinkommenden oder ankernden Schiffe, genieße den unvergleichlichen Duft des Hafens. Und oft packt mich ein wenig Fernweh .. Ich vermute, dass Sie in vielen Häfen gewesen sind, die ich am Klavier so oft nur besungen habe: Bombay, Rio, Shanghai…“„Ja, da war ich tatsächlich“, unterbrach er mich, „und noch in vielen anderen Häfen.“ Ich wagte, ihn anzulächeln und sagte: „Ich würde so gern von Ihren Reisen hören.“

Eine kleine Weile wartete er, dann begann er zu erzählen. Nur selten gab er mir die Gelegenheit zum Nachfragen. Weder er noch ich schauten auf die Uhr. Aber mir entging nicht, dass er allmählich gelöster wurde und manchmal sogar lachte. Nachts um 3 Uhr verabschiedeten wir uns. Am nächsten Tag sahen wir uns auf seinem Schiff wieder. Er empfing mich lächelnd in seiner chicen Uniform.

© Uwe Böschemeyer 2019-05-28