Von der Zeit

Ena Hentschel

von Ena Hentschel

Story
2024

Romy hält ihr Notizbuch in den Händen und streicht mit ihrem Daumen über den ledernen Einband, der ein Geschenk auf ihrer Reise war. Es sind Gedanken, die sie über die Zeit zusammengetragen hat. Gedanken, die es in ihrem Kopf nicht mehr ausgehalten haben. Gedanken, die sie nie aussprechen wird, weil sie zu brutal sind. Auf seltsame Weise wirken sie sanfter auf Papier. Wohl überlegter, als ausgesprochen. Sie blättert einige Seiten in ihrem Büchlein zurück:

Wenn Geister der Vergangenheit an die Tür klopfen, fragen sie nach dir. Ich kann nicht mehr tun, als tief durchzuatmen und zu sagen:
„Sie lebt hier nicht mehr.“
Doch so einfach sind sie nicht zu vertrösten. Sie fragen nach. Sie fragen, warum du fortgegangen bist, wohin es dich getrieben hat und ob du eines Tages wieder zurückkommst. Ich atme ein. Ich atme aus. Ich habe es einstudiert. Die Antwort tausende Male in meinem Kopf vorgesprochen. Und doch fällt es mir unglaublich schwer die Fassung zu bewahren. Nicht weinen. Einfach antworten.
„Die vier Wände hier waren nicht gut zu ihr“, sage ich.
„Sie haben sie viel zu früh erwachsen werden lassen. Sie haben sie glauben lassen, dass sie zu viel ist, dass sie niemals reichen wird, ganz gleich wie sehr sie sich anstrengt. Ihr Fehler war, sie hat es geglaubt. Sie hat denen gegeben, die nichts Gutes für sie gehofft haben. Hat geblutet für die, die sich die Finger niemals schmutzig gemacht hätten. Sie ist gegangen. Es hätte ein Zuhause sein können. Diese vier Wände. Doch diese vier Wände waren alles, außer das. Sie waren nicht gut zu ihr.“
Sie schauen mich verwundert an, als hätten sie es nicht ahnen können.
„Wann kommt sie wieder?“, fragen sie. Wann sie wiederkommt? Nie wieder, würde ich ihnen am liebsten entgegenschreien.
„Sie lebt hier nicht mehr“, wiederhole ich ruhig, mit Wehmut in der Stimme. Sie gehen. Sie drehen sich um und gehen. Und dann stehst da du. Mit Verzweiflung sehe ich das kleine Mädchen vor mir, das du einst warst. Tapfer stehst du da, die Welt noch vor dir. Es tut mir so leid. Dass ich dich nicht retten kann. Es tut mir so leid.

Romy greift zu ihrem Stift und blättert auf eine leere Seite. Eine Träne rollt ihre Wange hinunter, doch sie schreibt:

Sie tut mir leid. Das kleine Mädchen. Tut sie dir auch leid? Ich möchte sie in den Arm nehmen. Das kleine Mädchen. Willst du das auch? Ich möchte ihr sagen, dass alles gut wird, irgendwann. Dem kleinen Mädchen. Willst du das auch? Sag mir, verspürst du diesen Drang danach, sie vor der Welt zu beschützen? Spürst du diese tiefen Schuldgefühle, wenn du darüber nachdenkst, dass es zu spät ist? Dass deine Zeit abgelaufen ist? Denn das ist sie. Abgelaufen. Neben den vielen Dosen mit den hellgelben Tabletten. Den vergessenen Geburtstagen. Den ausgepusteten Wunschkerzen, dessen Wünsche mit dem Rauch der Kerzen verschwanden. Den eisigen Wintermonaten in den kahlen Wänden, an denen nicht ein einziges Bild hing. Zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Da ist sie abgelaufen. Deine Zeit. Du kannst es nicht mehr gut machen. Es ist zu spät. Denn selbst wenn du versuchst zurückzukommen, Mama:
„Sie lebt hier nicht mehr.“

© Ena Hentschel 2024-08-09

Genres
Romane & Erzählungen
Stimmung
Dunkel, Emotional, Unbeschwert, Reflektierend, Traurig
Hashtags